Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
dem Unrecht getan wird. Der gefallene Engel wird bei Milton zu Unrecht aus dem Himmel verbannt und ist infolge dieses erlittenen Unrechts voller Wut und Rachegedanken.
»Sie glauben, dass wir es hier mit
dem
gefallenen Engel zu tun haben?«
»Vielleicht ist dieser Gedanke gar nicht so abwegig, wie er uns jetzt erscheint.« Maurice Micklewhite lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Der Lichtlord wurde seit dem frühen Mittelalter nirgends mehr gesehen.«
Überall auf der Welt trifft man auf die alten Götter. Auch auf Engel
. Mylady sah mich ernst an.
Warum sollte ER es nicht sein?
»Die Urieliten hätten seine Gegenwart doch sicherlich bemerkt«, gab ich zu bedenken.
»Die Engel vom Oxford Circus kümmern sich nicht mehr um die Belange der Menschen«, sagte Maurice Micklewhite.
Mylady schaltete sich ein.
Woher sonst hätte Milton all die Einzelheiten wissen sollen, über die er geschrieben hat, wenn ER es nicht selbst gewesen ist?
Das Argument der Ratte war nicht von der Hand zu weisen
. Niemand sonst hat mit solchem Zorn über die alten Geschichten geschrieben. Kein Schriftsteller hat den gefallenen Lichtlord derart menschlich dargestellt. Miltons Engel ist ein einfühlsamer, intelligenter Geist, der die himmlische Ordnung angezweifelt hat, weil sie ihm Unrecht hat widerfahren lassen.
Zudem
benutzt Milton den alten Namen des Engels. Lucifer. Ein nicht unwesentlicher Punkt, wie ich meine. Satan ist Hebräisch und bedeutet Widersacher. Lucifer hingegen ist der Lichtbringer und wird mit dem Morgenstern in Verbindung gebracht.
Die schwarzen Knopfaugen waren jetzt hellwach.
Weswegen ist Anubis wohl nach London gekommen?,
fuhr die alte Rättin fort und wartete die Antwort nicht einmal ab.
Er ist dem Ruf seines Gebieters gefolgt. Niemand anderem als dem Lichtlord würde der mächtige Totengott untertan sein. Nicht zu vergessen die Wölfe, die ihrerseits dem Ruf des Ägypters gefolgt sind. Erinnert euch an die alten Geschichten. Pepys hat von der Wolfsplage berichtet, die mit dem Feuer nach London gekommen sei. Und Chaucer erwähnt in den
Canterbury Tales
pestbringende Gestalten, die an den Ufern der Themse lauern und den vollen Mond anheulen.
»Master Lycidas ist also, und davon sollten wir ausgehen, ein gefallener Engel.«
»Der in London die Kinder stehlen lässt?«
Ratte und Elf nickten gleichermaßen.
Ich lehnte mich in dem bequemen Sessel zurück und beförderte einen Stein aus der Tasche meines Gewandes. Es war ein großer Bilderjaspis von dunkler Farbe. Ich ließ den Stein vor meinem Gesicht in der Luft schweben und betrachtete das Muster, konzentrierte mich darauf und versuchte, meine Gedanken zu klären. Wenn das alles wirklich der Wahrheit entsprach und der Lichtlord unser Gegner war, so hatten die Dinge eine nicht allzu willkommene Wendung genommen.
»Was werden wir nun tun?« Die alles entscheidende Frage!
Maurice Micklewhite unterbreitete mir seinen Vorschlag.
»Das ist dein Plan?«, hakte ich ungläubig nach.
Er nickte und antwortete trocken. »Das ist mein Plan.«
Ich ließ den Bilderjaspis zurück in meine Hand gleiten.
Seufzte.
»Nun denn«, murmelte ich.
Und Mylady Hampstead piepste voller Tatendrang:
Dann sollten wir keine Zeit verlieren
.
»Wir sind jetzt in der Hölle, Miss Emily Laing.« Noch immer ruhte die behandschuhte Hand auf der Schulter des Mädchens. Lucia del Fuego lächelte gütig. »Doch müssen Sie keine Angst haben. Ich habe ein Auge auf Sie.« Den Blick Aurora zugewandt fügte sie hinzu: »Und auch auf Sie natürlich.«
Zum ersten Mal, seitdem sie die Jägerin im Regent’s Park getroffen hatten, zweifelte Emily an ihrer Aufrichtigkeit.
»Was ist das für ein Ort?« Zu ähnlich waren die Stollen dem Bergwerk aus Emilys Vision.
Lucia del Fuego blickte das Mädchen durch die dicken Brillengläser ernst und gleichzeitig offen an.
»Wir sind in der Hölle.«
Aurora war dicht neben ihre Freundin getreten.
Dinsdale schwebte über ihren Köpfen.
Die Kinder ohne Augen beachteten die Neuankömmlinge nicht im Geringsten. Beim näheren Hinsehen stellte Emily fest, dass die Kinder dunkle, schimmernde Spiegelscherben in ihren Augenhöhlen stecken hatten. Die hageren Gesichter wirkten leblos und ausgezehrt. Mit schlurfenden Schritten gingen die armen Gestalten ihrer Arbeit nach, schoben schwere, rostige Loren auf den schmalen Gleisen entlang, schürften in dem ewigen Eis, das die Stollenwände wie eine zweite Haut bedeckte, nach Steinen. Die Kleidung der Kinder ließ die
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