Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
sollen, um das, was dort eingeschlossen ist, zu befreien.«
Ein Schatten kroch an der niedrigen Decke entlang.
Lucia del Fuego zog die beiden Mädchen augenblicklich hinter einen massiven Stützbalken in Deckung. Dinsdale steuerte eine Lampe an der Tunneldecke an und verbarg sich im Schein des Lichts.
Emilys Herz begann zu pochen, als sie in die Stille lauschte.
Nur die schlurfenden Schritte der Kinder mit den Spiegelscherbenaugen waren zu hören, dazu das Knarzen der eisernen Räder auf den rostigen Schienen. Der eisige Wind pfiff heulend um die Biegung, die der Stollen vor ihnen beschrieb. Etwas anderes vermischte sich mit dem Geräusch des Windes.
»Was ist das?« Eigentlich war es nicht mal ein Flüstern. Auroras Lippen formten die Worte, wie sie es des Nachts im Schlafsaal des Waisenhauses getan hatten, wo Äußerungen jedweder Art strengstens untersagt gewesen waren.
Emily schüttelte den Kopf.
Lucia del Fuego warf den Kindern einen ernsten Blick zu, der keine Zweifel daran ließ, dass sie eine Begegnung mit dem, was das Geräusch machte, vermeiden sollten.
Emily bemerkte, dass Dinsdale vollständig erloschen war.
Das Geräusch schwoll an.
Es war, als schabten spitze Krallen auf Stein. Da war ein Knacken, als würden Knochen brechen. Ein schnalzendes Geräusch. Emily bemerkte, dass etwas fehlte. Die schlurfenden Schritte waren verstummt. Die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen hatten innegehalten. Da erklang ein lautes Surren. Wie im Inneren eines Bienenstocks, dachte Emily unzusammenhängend. Das Knacken und Schnalzen wurde lauter, kam näher, hielt inne.
Die beiden Mädchen wagten nicht einmal zu atmen.
Etwas schabte hart über das Eis.
Fühler, dachte Emily ängstlich. Es sind Fühler.
Das laute Surren erhob sich erneut.
Flügel!
Aurora klammerte sich an Emily.
Lucia del Fuego saß ruhig und konzentriert da, die Armbrust im Anschlag, den Blick auf den Schatten an der Decke gerichtet.
Das Kratzen näherte sich.
Was immer es ist, dachte Emily und versuchte, nicht in Panik auszubrechen, es ist groß.
Das Schnalzen war nun ganz nah. Nur der Stützbalken trennte sie von dem Ding, das diese Geräusche machte. Kleine Eisbrocken wurden am Boden entlanggeweht. Es ist groß, und es hat Flügel, schrie es in Emily, deren Finger sich in Auroras Jacke gekrallt hatten.
Die Jägerin hob die Armbrust und wartete darauf, dass es hinter dem Balken hervorkäme.
Dann wurde es still.
Für einige Augenblicke.
Langsam kehrten die Geräusche der arbeitenden Kinder zurück.
»Es ist fort«, flüsterte Lucia del Fuego und stand auf, trat hinter dem Balken hervor und prüfte den Stollen.
»Was ist das gewesen?« Auroras Stimme zitterte so stark, dass man die Worte kaum verstand.
»Ein Nekir«, sagte die Jägerin.
Was nicht gerade einladend klang, entschied Emily.
»Die Nekir dienen Lycidas«, erklärte Lucia del Fuego mit leiser Stimme, während die bebrillten Augen wachsam umherlugten. »Und sie sind nicht sehr … ansehnlich.«
Emily konnte sich denken, was sie damit meinte, und ein kurzer Blick in das blasse Gesicht ihrer Freundin sagte ihr, dass auch Aurora nicht das Verlangen verspürte, diesem Wesen noch einmal zu begegnen.
»Was tun diese … Nekir?«, wollte Aurora wissen.
Dinsdale kam auf die beiden Mädchen zugeflogen.
»Die Hölle ist der Lebensraum vieler Kreaturen«, antwortete Lucia del Fuego. »Es ist ihre Heimat. Sie leben hier unten. Diese Wesen waren hier, bevor die uralte Metropole entstanden war, bevor die ersten Kelten eine kleine Siedlung an der Themse gegründet, bevor die Römer Londinium errichtet hatten. Die Nekir leben in diesem Labyrinth. Sie fressen. Und alle dienen sie Lycidas. Er ist ihr Gebieter. Für ihn bewachen sie die Stollen und Tunnel, sorgen dafür, dass die Seelenlosen ihre Arbeit verrichten.«
»Was passiert, wenn eines der Kinder zu schwach ist?« Auroras Fragestellung ließ erahnen, dass sie die Antwort bereits kannte.
»Es passiert das, was immer in der Natur passiert, wenn jemand zu schwach ist.«
Emily konnte nicht glauben, dass sie so teilnahmslos von diesen monströsen Kreaturen sprach. »Die Nekir fressen das Kind doch nicht etwa auf?«
Die Jägerin ließ kein Mitleid erkennen. »So ist der Lauf der Dinge. Hier unten.« Sie deutete mit erhobenem Finger zur Decke des Stollens. »Und auch da oben in der anderen Welt. Das Überleben des Stärkeren ist ein uraltes Gesetz, und jede Form von Leben muss sich ihm unterordnen.«
»Das ist ungerecht.«
Emily
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