Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
einzugestehen bereit war, und die zudem noch Kontakte zu ihrer leiblichen Mutter pflegte – diese Helferin in ärgster Bedrängnis schien auch von einem Geheimnis umgeben zu sein. Wie sehr Emily sich auch einreden mochte, dass es mangelnde Aufmerksamkeit gewesen war – Lucia del Fuego hatte die Anspielung auf Wittgenstein nicht verstanden.
Es gibt keinen Zufall.
Fragen Sie nicht.
Vielleicht fand sie es auch nicht witzig, jemanden zu zitieren.
Vielleicht war ihr nicht einmal aufgefallen, dass der Alchemist ständig diese Floskeln wiederholte. Unwahrscheinlich, dachte Emily. Letzten Endes brachte es sie dazu, die Rolle der Jägerin zu überdenken. Das überraschende Auftauchen im Regent’s Park, der schnelle Abstieg hinab in die Hölle, ihre Kenntnisse bezüglich der Wege in diesem Labyrinth.
Ihr Gefühl sagte Emily, dass etwas nicht stimmte.
Doch bevor sie herausfinden konnte, was es war, überstürzten sich die Ereignisse.
Der Wyrm war riesig. Seine kränkliche, blasse Haut wirkte an manchen Stellen beinahe durchsichtig. Dort, wo die großen Ringsegmente des gedrungenen Körpers ineinander übergingen, sonderte der Wyrm eine helle Flüssigkeit ab. Einen Mund konnte Emily nicht erkennen. An seiner statt reckten sich vereinzelt lange, dünne Tentakel aus dem Körper. Die klebrigen Enden der Tentakel bedeckten vollständig die Gesichter der unglücklichen Kinder, die an eisernen Gestellen festgebunden dem großen Wyrm hilflos ausgeliefert waren.
Lucia del Fuego hatte die Mädchen etwa eine Stunde lang durch das Labyrinth der Hölle geführt.
Dann hatten sie die Höhle erreicht.
Es war unschwer zu erkennen, dass der Raum nicht natürlichen Ursprungs war.
Der gigantische Hohlraum sah aus, als habe man die Kuppel einer großen Kathedrale abgeschnitten und irgendwie unter die Erde verfrachtet. In dem eisbedeckten, verwitterten Gestein waren Fresken zu erahnen, deren Farben längst verblasst und deren Darstellungen kaum mehr erkennbar waren. Im Zentrum der Höhle erhob sich ein Baum mit knorrigen, missgestalteten Ästen, die sich der Kuppel entgegenreckten und sich teilweise sogar in den Fels hineingebohrt hatten. Welke Blätter, die kaum Ähnlichkeit mit denjenigen Blättern hatten, die Emily aus der Natur kannte, bewegten sich träge.
»Pairidaezas Stock«, hatte die Jägerin den Baum genannt.
Erschrocken stellten die Kinder fest, dass der Baum atmete.
Zumindest erweckten die wellenartigen Bewegungen der Rinde diesen Eindruck.
Es schien, als bewege sich etwas
unter
der Rinde.
Dinsdale hockte auf Auroras Schulter. Die Kälte raubte ihm immer mehr die Kräfte, was er jedoch nicht zuzugeben bereit war. Hin und wieder war er in Emilys Jackentasche geschlüpft, um sich an dem Bernstein zu laben. Doch halfen ihm diese Stärkungen nur für kurze Zeit.
»Was ist das?«, fragte Emily.
Der Wyrm lag träge und massig da. Sein wulstiger Körper lief nach hinten spitz zu, und dieses Ende steckte in der feuchten Erde, aus der sich der Baum erhob. Dort, wo sich Wyrm und Erde berührten, war das Eis geschmolzen, und die dunkle Erde dampfte förmlich vor Hitze. Etwas Schleimiges schien an manchen Stellen aus dem Boden zu quellen. Kleinere Nekir krabbelten flink über den Körper des Wyrms und sammelten jene Tropfen ein, die aus den Segmentrillen quollen.
»Der Lebenssaft«, erklärte ihnen Lucia del Fuego.
»Was geschieht mit den Kindern?«, wollte Emily wissen und lugte vorsichtig hinter dem Felsvorsprung hervor, hinter dem sich die drei versteckt hielten.
»Der Wyrm verzehrt ihre Seelen. Deshalb nennen wir sie die Seelenlosen. Was immer auch im Magen des Wyrms passiert, am Ende scheidet er etwas aus, das die Unschuld der Kinder enthält, und mit diesem Saft wird der Lebensbaum getränkt.«
Jetzt erst erkannte Emily, dass der Baum auch Früchte trug.
Dunkle, verschrumpelte Trauben, die ebenfalls zu atmen schienen.
Die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen pflückten die Trauben und pressten sie aus.
»Wenn sie keine Seele mehr haben, dann verblassen ihre Augen.«
»Warum haben sie diese Spiegelscherben in den Augen stecken?«, erkundigte sich Aurora.
»Es ist ein Symbol. Die Welt dringt nicht mehr bis in ihr Innerstes vor. Das, was sie sehen, wird reflektiert und bleibt außen.«
Einige große Nekir hatten die Höhle betreten.
Ihre Kiefernzangen bewegten sich tastend, die großen Insektenflügel waren an die dürren Körper angelegt. Emily sah, wie sie an einer Reihe von Käfigen entlangkrabbelten, mit den
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