Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen
sich mit ihnen, wie sie glaubte, unauffällig durch die Stadt bewegen konnte und kaum Blicke auf sich zog. Die roten Haare trug sie nun länger. Sie wirkten meist so, als sei sie gerade erst aufgestanden. Und noch immer fiel eine lange Strähne über ihr Mondsteinauge, das gegen ein sorgfältig modelliertes Auge aus Glas zu ersetzen sie sich immer noch beharrlich weigerte.
»Das Mondsteinauge ist ein Teil von mir und wird es immer sein«, pflegte sie trotzig zu bemerken, wenn andere Schüler es wagten, sie darauf anzusprechen. Zudem war es das erste richtige Geschenk in ihrem Leben gewesen.
»Der Mondstein«, hatte ich ihr erklärt, »nimmt die Angst vor der Zukunft. Er besitzt die Kraft der Jugend und schenkt Lebensfreude.«
Ganz zaghaft hatte sie damals das neue Auge berührt. »Es fühlt sich lebendig an, Wittgenstein.«
Ich hatte damals gehofft, dass ihr das Mondsteinauge einige der schlimmen Erinnerungen an Rotherhithe nehmen würde. Daran, dass sie im Alter von sechs Jahren infolge unglücklicher Verquickungen das Licht des linken Auges hatte einbüßen müssen.
Fremden Menschen war Emily meist mit Misstrauen und Argwohn begegnet.
»Ich weiß, dass die Menschen mich nur wegen des Auges anstarren.«
»Eines Tages«, hatte ich ihr versichert, »werden Sie jemandem begegnen, der Sie gerade wegen Ihres Mondsteinauges lieben wird.«
Damals hatte ich nur ein Achselzucken geerntet.
Nicht lange darauf jedoch war meine Schutzbefohlene einem Jungen begegnet, der den Blick gar nicht mehr hatte abwenden können von ihr. Der sie mit seinen dunklen Augen angeschaut und das verunsicherte Herz des jungen Waisenmädchens in eben jenem Augenblick erobert hatte, als sie einander zum ersten Mal über den Weg gelaufen waren.
Zwei Jahre schon lag dieser Augenblick zurück, und noch immer war er mehr Gegenwart als Vergangenheit für Emily. Noch immer waren Adam Stewart und sie ein Paar, und sie lächelte, das sei hier angemerkt, viel öfter, als sie es früher getan hatte.
Und wenn Emily allein im alten Raritätenladen saß, dann hing sie manchmal Tagträumen nach, die so angefüllt waren mit großen Erwartungen, dass sie mühelos den Werken der großen Romantiker das Wasser hätten reichen können. Endeten nicht all die Klassiker und Filme mit einem guten Ende? Doch wann erfuhr man schon, wie das Leben nach diesem Ende weiterging? Was geschah mit den Liebenden, nachdem sie ihren Himmel gefunden hatten? Immer führte dieser Gedanke sie auf Pfade, die zu beschreiten sie noch nicht bereit war. Zu viele Menschen, die einst ihren Himmel gefunden hatten, verloren sich irgendwann im Labyrinth des Lebens und blieben auf ewig Verirrte. Die Pfade, denen diese Gedanken folgten, führten zu Gesichtern, die Emily schon seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatte.
Das Läuten der Klingel, die über der Tür baumelte, ließ Emily das Grübeln beenden.
»Adam!«
Der Junge, der eingetreten war, schüttelte den Schnee von seiner Jacke und aus den Haaren, stapfte kurz den Matsch von den Schuhen, lächelte und ging zu ihr.
»Emmy!« Er küsste sie sanft auf den Mund und strich ihr das Haar aus dem Gesicht.
»Was ist los?« Emily spürte, dass etwas anders war als sonst, und die unbeschwerte Fröhlichkeit, die er zur Schau trug, schien ihr unecht zu sein. Also reagierte sie misstrauisch, wie es nun einmal ihre Art war.
»Es hat sich etwas ergeben«, offenbarte ihr Adam. Zögerlich zwar, aber die Entschlossenheit in den dunklen Augen war etwas, was Emily zuvor noch nicht in ihnen erblickt hatte. »Etwas, was ich mir schon all die Jahre über gewünscht habe.«
Emily spürte, wie sie instinktiv auf Distanz ging.
Adam stand vor ihr und sah sie ernst an.
»Was ist los?«
Er umarmte sie ganz schnell und hob sie dabei hoch. »Etwas Wunderbares, Emmy.«
Das Mädchen mit dem roten Haar zog ein Gesicht. »Lass mich runter, Adam. Ich mag das nicht.« Und nachdem er ihrem Wunsch entsprochen hatte: »Los, raus mit der Sprache! Was ist das für eine Neuigkeit, die mir zu unterbreiten du nicht erwarten kannst.«
»Ich habe ein Engagement.«
Sie hatte es vage geahnt.
Die ganze Zeit schon.
»Wo?«
»In Paris.«
Emily starrte ihn an.
Stille wurde zwischen ihnen geboren.
So absolut, dass sie schon schmerzte.
Schließlich fragte er: »Und?«
»Und was?«
»Freust du dich nicht?«
Sie wollte nicht glauben, was sie da hörte. »Weshalb, in aller Welt, sollte ich mich freuen?«
»Es wäre mein erstes richtiges Engagement.« Die leuchtenden
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