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Die Urth der Neuen Sonne

Die Urth der Neuen Sonne

Titel: Die Urth der Neuen Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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sicher, daß er mich hier unter den unsichtbaren Blicken seines Monarchen nicht schlagen ließe vom Vingtner. Und siehe da, ich täuschte mich nicht! Einen Augenblick lang starrten wir uns an, Opfer und Täter in zweierlei Hinsicht.
    Der Vingtner bellte ein Kommando heraus, und sein Trupp kehrte dem Vorhang den Rücken zu. Nachdem sich der Chiliarch vergewissert hatte, daß keiner der Wächter sehen könnte, was dahinter lag, wenn sich der Vorhang teilte, forderte er mich auf: »Durchgehen.«
    Ich nickte. Der Vorhang bestand aus scharlachroter dreifacher Seide, die sich herrlich anfühlte. Als ich ihn öffnete, sah ich die Gesichter, mit denen ich gerechnet hatte, und verneigte mich vor dem Besitzer.
     

 
Wieder die Klaue des Schlichters
     
    Der zweiköpfige Mann, der auf dem Diwan hinter dem scharlachroten Vorhang ruhte, erhob den Becher als Antwort auf meine Verbeugung. »Wie ich sehe, weißt du, vor wem du stehst.« Es war das Haupt zur Linken, das sprach.
    »Du bist Typhon«, sagte ich. »Der Monarch, der alleinige Herrscher – wie du dir zumindest einbildest – dieser Welt, die unter keinem guten Stern steht, und anderer Welten obendrein. Aber nicht vor dir habe ich mich verneigt, sondern vor meinem Wohltäter Piaton.«
    Mit einem kräftigen Arm, der ihm nicht gehörte, führte Typhon den Becher an die Lippen. Sein Blick über den goldenen Rand war der verderbliche Starrblick der Goldbartnatter. »Du kennst Piaton von früher?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich kenne ihn von der Zukunft.«
    Typhon trank und stellte den Becher auf ein Tischchen. »Es stimmt also, was man von dir sagt? Du bleibst dabei, ein Prophet zu sein?«
    »Ich habe mich nie für einen solchen gehalten. Aber ja, wenn du so willst. Ich weiß, daß du auf diesem Diwan sterben wirst. Interessiert dich das? Dieser Leib wird im Gurtzeug liegen, das du nicht mehr brauchst, um Piaton festzuhalten, und im Gerät, das du nicht mehr brauchst zu seiner Zwangsernährung. Der Bergwind wird den geraubten Leib austrocknen wie das Laub, das vor seiner Zeit absterben muß, und ganze Zeitalter werden darüber hinwegschreiten, bis meine Ankunft dich wieder zum Leben erweckt.«
    Typhon lachte, wie ich ihn lachen gehört hatte, als ich Terminus Est zückte. »Du bist ein schlechter Prophet, fürchte ich; aber ein schlechter Prophet, finde ich, ist amüsanter als ein wahrer. Wenn du mir lediglich vorhergesagt hättest, daß ich – sollte ich je sterben, was ich allmählich bezweifle – aufgebahrt in der Schädelhöhle dieses Monuments liegen sollte, so hättest du nur gesagt, was jedes Kind hätte sagen können. Da sind mir deine Phantasien schon lieber, und vielleicht kannst du mir nützlich sein. Angeblich hast du wunderbare Heilungen vollbracht. Hast du wirklich Macht?«
    »Das mußt du entscheiden.«
    Er setzte sich auf, wobei der muskulöse Torso, der ihm nicht gehörte, schwankte. »Ich bin es gewohnt, daß meine Fragen beantwortet werden. Ein Wort von mir, und hundert Mann meiner Division wären zur Stelle, um dich«, – er machte eine Pause und lächelte selbstgefällig –, »aus meinem Ärmel zu werfen. Gefiele dir das? So verfahren wir mit Arbeitern, die nicht arbeiten wollen. Antworte, Schlichter! Kannst du fliegen?«
    »Das kann ich, weil ich’s nie versucht habe, nicht sagen.«
    »Dann wirst du bald Gelegenheit dazu haben. Ich frage dich ein zweites Mal.« Wieder lachte er. »Entspricht schließlich meiner momentanen Verfassung. Aber kein drittes Mal. Hast du Macht? Beweis es oder stirb.«
    Ich hob die Schultern um Fingersbreite und ließ sie wieder sinken. Die Hände waren noch taub von den Schellen; ich rieb mir die Handgelenke. »Würdest du mir«, fragte ich, »falls ich die Macht hätte, gestatten, einen bestimmten Mann zu töten, der mich verletzt hat, und zwar lediglich durch einen Hieb auf den Tisch vor uns?«
    Der unglückliche Piaton machte große Augen, während Typhon lächelte. »Ja, das wäre ein hinreichender Beweis.«
    »Dein Wort darauf?«
    Das Lächeln wurde breiter. »Wenn du willst«, sagte er. »Nun beweis es mir!«
    Ich zückte den Dolch und rammte ihn in die Tischplatte.
    Ich möchte bezweifeln, daß man auf dem Berg für die Verwahrung von Gefangenen eingerichtet war. Und als ich über meinen Verwahrungsort nachdachte, gewann ich den Eindruck, daß auch die Zelle im Schiff, das unser Matachin-Turm werden sollte, ein Provisorium war, ein Provisorium neueren Datums. Hätte Typhon mich lediglich einsperren wollen, so

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