Die Urth der Neuen Sonne
Fliegen.«
Der Junge nickte. »Die hätte ich auch, aber trotzdem möchte ich’s mal erleben.« Verlegen hielt er mir die Hand hin. »Viel Glück, Severian, wohin auch immer man dich bringen wird.«
Ich drückte sie; sie war schmutzig, aber trocken und wirkte winzig. »Reechy«, sagte ich. »Das ist doch nicht dein richtiger Name?«
Er grinste. »Nein. Reechy bedeutet, daß ich stinke.«
»Ich rieche nichts.«
»Es ist noch nicht kalt«, erklärte er, »also kann ich im Fluß baden. Im Winter freilich habe ich nicht oft Gelegenheit zum Waschen, obwohl sie mich ganz schön schuften lassen.«
»Tja, ich weiß. Aber dein richtiger Name ist …«
»Ymar.« Er zog die Hand zurück. »Warum schaust du mich so an?«
»Weil ich, als ich dich berührte, Juwelen auf deinem Haupt funkeln sah. Ymar, ich glaube, allmählich breite ich mich aus. Durchdringe die Zeit – vielmehr erkenne ich, daß die Zeit von mir durchdrungen ist wie von uns allen. Wie sonderbar, daß wir einander auf diese Art begegnen.«
Ich zögerte kurz, und die Stimme stockte mir ob dieser verwirrenden Gedanken. »Vielleicht ist es auch gar nicht sonderbar. Irgend etwas bestimmt unser Schicksal, gewiß. Etwas noch Höheres als die Hierogrammaten.«
»Was redest du da?«
»Ymar, eines Tages wirst du der Herrscher sein. Du wirst Monarch sein, gleichwohl du dich, glaube ich, so nicht bezeichnen wirst. Versuche, in deinem Amt für die Urth zu wirken, nicht nur im Namen der Urth, wie es so viele getan haben. Sei gerecht, zumindest so gerecht, wie die Umstände es zulassen.«
Er sagte: »Du scherzt mit mir, nicht wahr?«
»Nein«, entgegnete ich. »Obwohl ich nicht mehr weiß, als daß du herrschen und eines Tages verkleidet unter einer Platane sitzen wirst. Das freilich weiß ich sehr genau.«
Nachdem er und der Geselle gegangen waren, steckte ich das Messer in den Stiefelschaft und bedeckte es mit dem Hosenbein. Dabei – und noch danach, als ich auf der Pritsche saß – machte ich mir Gedanken zu unserm Gespräch.
War es nicht denkbar, daß Ymar nur auf den Phönixthron gelangte, weil irgendein Epopt – ich selbst – dies prophezeit hatte? Soviel ich weiß, gibt es dazu keine historischen Belege; und vielleicht habe ich damit eigene Tatsachen geschaffen. Oder aber Ymar, der sich nun in der Gewißheit wähnt, die Bahn seines Schicksals zu beschreiten, wird keine größeren Anstrengungen unternehmen, um sich einen herausragenden Sieg zu sichern.
Wer weiß? Verbirgt nicht Tzadkiels Schleier der Ungewißheit die Zukunft selbst vor jenen, die ihrem Nebel entstiegen sind? Die Gegenwart wird, wenn wir sie vor uns lassen, abermals zur Zukunft. Ich hatte sie verlassen und wartete in tiefster Vergangenheit, die in meinen Tagen zur grauen Vorzeit verschwommen war.
Schleppend folgte Wache auf Wache, wie Ameisen durch den Herbst winterwärts kriechen. Als ich schließlich zur festen Überzeugung gelangt war, daß Ymars Meldung falsch gewesen sei, daß die Prätorianer nicht mehr am gleichen, sondern am nächsten Tag – oder überhaupt nicht – kämen, schaute ich aus der Luke, um die Zeit totzuschlagen und den wenigen Leuten zuzusehen, die auf verschiedenen Besorgunggängen über den Alten Hof kamen.
Nun ankerte dort, schlank wie ein Silberpfeil, ein Flieger. Kaum hatte ich ihn gesehen, vernahm ich auch schon gemessenen Marschschritt, der aussetzte, als die Männer die Treppe erklommen, und in dem Stockwerk wieder einsetzte, in dem ich wartete. Ich stürzte zur Tür. Ein Geselle hastete ihnen voraus, ein ordengeschmückter Chiliarch eilte ihm nach. Die im Schwertgurt eingehakten Daumen wiesen ihn nicht als untertänig, sondern als Mann von Stand aus. Hintendrein stapfte im Gänsemarsch mit der disziplinierten Präzision der handkolorierten Soldaten eines Kindes (obgleich nur verschwommen sichtbar) ein Wachtrupp unter Führung eines Vingtners.
Der Geselle deutete mit seinem Schlüsselbund auf meine Zelle, der Chiliarch nickte geduldig und spazierte näher, um mich genauer zu betrachten, und der Vingtner bellte ein Kommando heraus, woraufhin der Trupp mit einem Stiefelpoltern stillstand, dem sogleich ein zweiter geheilter Befehl und ein zweites Poltern folgten, als die zehn für mich unsichtbar bleibenden Wächter ihre Waffen am Boden aufsetzten.
Der Flieger unterschied sich kaum von demjenigen, in dem ich einst die Armeen der Dritten Schlacht von Orithyia inspiziert hatte, und es mochte sich in der Tat um dasselbe Gefährt handeln, wurden diese
Weitere Kostenlose Bücher