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Die Urth der Neuen Sonne

Die Urth der Neuen Sonne

Titel: Die Urth der Neuen Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Herena fragte daraufhin: »Seid nicht Ihr selbst die Neue Sonne, Sieur? Die Frau, die euch begleitete, als Ihr in unser Dorf kamt, behauptete das.«
    Ich erwiderte, daß ich darauf nicht antworten wolle, denn wenn sie es wüßten – und mich dennoch eingesperrt sähen – würden sie verzweifeln.
    Declan wollte wissen, wie es der Urth erginge, wenn die neue Sonne käme; und ich, der ich nicht viel mehr Ahnung hatte als er, bezog mich auf Dr. Talos’ Schauspiel, wobei ich mir nicht träumen ließ, daß eines fernen Tages Dr. Talos’ Schauspiel meinen Worten nachempfunden werden sollte.
    Als sie schließlich gegangen waren, merkte ich, daß ich das Essen, das mir der Junge brachte, nicht einmal angerührt hatte. Ich war sehr hungrig, aber als ich nach der Schüssel griff, kam mir etwas anderes zwischen die Finger – ein langes dünnes Lumpenbündel, das so hingelegt worden war, daß es nicht auffiel.
    Die Stimme meines Nachbarn drang durchs Gitter herein. »Das war eine schöne Geschichte. Ich habe Notizen gemacht, so schnell ich konnte, und es sollte sich ein famoses Büchlein daraus machen lassen, sobald ich frei bin.«
    Ich schlug die Lumpen auseinander und hörte ihn kaum. Es war ein Messer – der lange Dolch, den der Maat an Bord der Alcyone getragen hatte.
     

 
Zur Gruft des Monarchen
     
    Den Rest des Abends starrte ich aufs Messer. Natürlich in übertragenem Sinne. Ich hatte es wieder in die Lumpen gewickelt und unter meiner Matratze versteckt. Aber als ich auf der Matratze lag und an die metallene Decke starrte, die mich an die Decke des Lehrlingsschlafsaals meiner Kindheit erinnerte, spürte ich das Messer unter den Knien.
    Später kreiste es vor meinen geschlossenen Augen und leuchtete im Dunkeln vom beinernen Heft zur nadeldünnen Spitze. Als ich endlich schlief, fand ich es auch in meinen Träumen wieder.
    Vielleicht schlief ich aus diesem Grunde schlecht. Immer wieder wurde ich wach und starrte geblendet in die Zellenbeleuchtung, die über mir brannte, stand auf und streckte mich, ging zur Luke und suchte den weißen Stern, der mein anderes Ich war. Damals hätte ich meinen eingekerkerten Leib gern dem Tod hingegeben, wenn ich es mit Würde hätte vollbringen können, um durch den mitternächtlichen Himmel zu entfliehen und mein Sein zu vereinen. In jenem Moment erkannte ich meine Macht, die ganze Welten anzuziehen und einzuäschern vermochte, wie ein Maler Erden zu Pigmenten verbrennt. Im nun verschollenen braunen Buch, das ich lange bei mir trug und in dem ich viel las, so daß ich es zuletzt auswendig kannte (obwohl es mir einst unerschöpflich schien), stehen diese Worte: »Seht, ich hatte noch einen Traum; Sonne, Mond und elf Sterne huldigten mir.« Dieser Satz zeigt deutlich, um wieviel weiser die alten Völker gewesen sind; nicht umsonst heißt dieses Werk Das Buch der Wunder vom Himmel und Urth.
    Auch ich hatte einen Traum. Ich träumte, daß ich die Macht des Sterns auf mich herabrief, aufstand und (sowohl Thecla als auch Severian) zur Gittertür ging, die Stäbe packte und auseinanderbog, so daß wir leicht hindurchgepaßt hätten. Aber als wir sie auseinanderbogen, war uns, als teilten wir einen Vorhang, hinter dem wir einen zweiten Vorhang gewahrten und Tzadkiel, die weder größer war als wir noch kleiner, mit einem flammenden Dolch.
    Als der neue Tag endlich mit güldenem Licht durch die offene Luke schien und ich auf Schüssel und Löffel wartete, sah ich mir die Stäbe genauer an; und obschon mir an den meisten nichts auffiel, bemerkte ich, daß die mittleren nicht ganz so gerade wie die übrigen waren.
    Der Junge brachte mir das Essen und meinte: »Auch wenn ich dich nur einmal gehört habe, so habe ich doch viel von dir gelernt, Severian. Ich lasse dich ungern gehen.«
    Ich fragte, ob meine Hinrichtung bevorstehe.
    Während er das Tablett abstellte, sah er kurz über die Schulter zurück zum Gesellen, der an der Wand lehnte, und erwiderte dann: »Nein, das nicht. Du wirst lediglich verlegt. Ein Flieger kommt dich heute abholen mit Prätorianern.«
    »Ein Flieger?«
    »Weil er die Rebellenarmee überfliegen kann, nehme ich an. Bist du schon einmal geflogen? Ich habe sie nur landen und starten gesehen. Muß ein wahnsinniges Gefühl sein.«
    »Ist es auch. Als ich das erste Mal in einem Flieger saß, wurden wir abgeschossen. Seither bin ich oft geflogen und habe sogar selber gelernt, wie man so ein Ding fliegt. Aber wenn ich ehrlich sein soll, so habe ich schreckliche Angst vorm

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