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Die Urth der Neuen Sonne

Die Urth der Neuen Sonne

Titel: Die Urth der Neuen Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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geringen Schwerkraft der Frachträume ungemein stark vor.
    Ein gewaltiger Wind brüllte jenseits der Wände, und binnen eines Augenblicks verschwanden die eigentlichen Wände. Irgend etwas – wir hatten keine Ahnung was – hielt den Wind ab. Irgend etwas bewahrte uns davor, aus dem kleinen Flieger zu purzeln wie Käferlein von einer Bank, gleichwohl wir mitten durch den Himmel von Yesod stürmten und nur den schmalen Boden unter den Füßen hatten.
    Dieser Boden schwankte wie ein Streitroß beim wildesten Angriff in der grimmigsten Schlacht aller Zeiten. Kein Teratornis stieß je schneller herab durch die Lüfte als wir, um dann mit dem Drall eines Pfeiles aufzuschießen wie eine Himmelsrakete.
    Im nächsten Moment segelten wir schwalbengleich über die Masten des Schiffes hinweg, um dann wahrhaft schwalbengleich abzusteigen und durch Masten, Taue und Rahen zu schwirren.
    Weil so viele Seeleute mehr oder weniger gestürzt waren, konnte ich die Gesichter der drei von Yesod sehen, die uns in den Flieger geführt hatten, und zum ersten Mal konnte ich auch das Antlitz ihres Gefangenen vollständig erkennen. Erstere waren gefaßt und belustigt, letzteres tollkühn verklärt. Ich wußte, daß meine Miene die Angst widerspiegelte, die ich empfand, fühlte ich mich doch wie damals, als die ascischen Pentadaktylen über Guasachts Schiavoni hinwegschwirrten. Noch etwas spürte ich, wovon ich gleich berichten werde.
    Wer nie gekämpft hat, glaubt, daß der Deserteur, der vom Schlachtfeld flieht, vor Scham vergeht. Das tut er nicht, denn sonst beginge er keine Fahnenflucht. Von nur wenigen Ausnahmen abgesehen, werden Schlachten von Feiglingen ausgetragen, die sich nicht zu fliehen getrauen. Und eben dies traf auf mich zu. Da ich mich vor Purn und Gunnie meiner Todesängste schämte, ließ ich meine Züge zu einem Ausdruck erstarren, welcher mit echter Entschlossenheit wohl kaum mehr Ähnlichkeit hatte als die Totenmaske mit dem heiteren Antlitz eines alten Freundes. Nun hob ich Gunnie auf und murmelte irgend etwas, das darauf hinauslief, daß sie sich hoffentlich nicht weh getan habe. »Es war der Junge, auf den ich fiel, der alles abkriegte«, erwiderte sie darauf, und ich merkte, daß sie sich ebenso schämte wie ich und ebenso entschlossen war, sich nichts anmerken zu lassen, gleichwohl sie Muffensausen hatte.
    Während dieser Worte erhob sich der Flieger wieder über die Masten, behielt die Höhe bei und breitete die Flügel aus, so daß wir uns wie auf dem Rücken eines Riesenvogels vorkamen.
    Die Frau, die vorhin die Ansprache gehalten hatte, meinte: »Nun habt ihr was zu erzählen, wenn ihr wieder bei euren Kameraden auf dem Schiff seid. Es besteht kein Grund zur Panik. Nun gibt’s keine Kunststücke mehr, und es kann keiner herausfallen.«
    Gunnie flüsterte: »Ich weiß, was du ihr sagen wolltest, aber siehst du denn nicht, daß sie den richtigen erwischt haben?«
    »Ich bin der richtige, um dich zu zitieren«, erklärte ich, »und ich habe keine Ahnung, was jetzt passiert. Habe ich dir erzählt – nein, hab ich nicht. Ich trage die Erinnerungen meiner Vorgänger in mir, und ich bin sozusagen zugleich meine Vorgänger. Der alte Autarch, der mir seinen Thron gab, ging auch nach Yesod. Ging, wie ich gehe – das heißt, wie ich gehen wollte.«
    Gunnie schüttelte den Kopf; ich sah ihr an, daß sie mich bedauerte. »Und du willst dich an all das erinnern können?«
    »Ich kann mich erinnern. Ich erinnere mich an jeden Schritt seiner Reise; ich spüre den Schmerz des Schnittes, der ihn entmannte. Es war ganz anders als jetzt; er wurde mit dem gebührenden Respekt von Bord gebracht. Er unterzog sich langer Prüfungen auf Yesod und wurde schließlich für unzulänglich befunden, wie auch er sich für unzulänglich befand.« Ich richtete den Blick auf die Frau und ihre Begleiter und hoffte, mich bemerkbar gemacht zu haben.
    Purn stand wieder bei uns. »Also behauptest du immer noch, daß du der wirkliche Autarch bist?«
    »Ich war Autarch«, stellte ich fest. »Und ja, ich werde die Neue Sonne bringen, wenn ich’s vermag. Willst du mich noch immer dafür erdolchen?«
    »Nicht hier«, erwiderte er. »Und höchstwahrscheinlich überhaupt nicht. Ich bin ein einfacher Mann, weißt du? Ich habe dir geglaubt. Erst als sie den richtigen erwischten, merkte ich, daß du Garn gesponnen hattest. Vielleicht ist auch dein Verstand verwirrt. Ich habe noch nie einen umgebracht und würde keinen umbringen wollen, weil er Seemannsgarn

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