Die Vagabundin
richtete sich ihr Bruder auf. Nein, auch er hatte ihn sich nicht genommen. Verdutzt starrte er auf seinebloßen Füße: «Meine Lederschuhe auch. Die hatte ich doch angelassen in der Nacht.»
Langsam begriff Eva, was hier geschehen war: Die Gastlichkeit der Bettler war nichts als geheuchelt und gelogen! Diese Dreckskerle hatten sie beide mit dem Würzwein betäubt, um sie anschließend zu berauben. So tief mussten sie geschlafen haben, dass man ihr unbemerkt den kostbaren Mantel vom Leib und Niklas die Schuhe von den Füßen hatte ziehen können. Selbst ihre alten, abgestoßenen Holzpantinen waren geklaut und Niklas’ Umhang. Sie griff unter ihre Rockschürze – dem Himmel sei Dank, das Messer steckte noch im Schaft, gleich neben der schlaffen, seit Tagen leeren Geldkatze.
Wie konnten Menschen nur so hinterhältig sein? Gehörten sie und Niklas nicht selbst zu den Bedürftigen? Schlimmer noch: Zu den Ärmsten der Armen gehörten sie fürderhin, zum Hudel- und Bettelvolk, denn sie besaßen nichts mehr als die schmutzige, abgerissene Kleidung, die sie auf dem Leib trugen.
Sie ballte die Fäuste.
«Na warte», zischte sie. «Wenn ich die erwische! Diese Schandbuben! Dieses verhurte Schelmendiebsgesindel!»
Mit einem wütenden Fußtritt katapultierte sie die vordere Bretterwand nach außen. Gleißendes Sonnenlicht fiel auf ihr Lager. Eva blinzelte. Der schmale Wiesenstreifen lag wie ausgestorben vor der Stadtmauer. Bis auf die erloschenen Feuerstellen kündete nichts davon, dass sich hier gestern Abend noch eine Horde Bettler versammelt hatte.
«Sie sind alle weg», flüsterte Niklas.
«Das seh ich auch! Komm jetzt, steh auf, wir versuchen nochmal, in die Stadt zu kommen.»
Ein Krachen und Poltern ließ sie zusammenzucken. Ein Stück weit mauerabwärts fiel einer der Verschläge in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Kurz darauf der nächste. Dann entdeckteEva die beiden Männer – der eine war der Torwächter vom Vortag –, die mit ihren Äxten und Spießen den Bettelquartieren zu Leibe rückten. Auch sie selbst waren entdeckt worden. Evas erster Impuls war, davonzulaufen, dann aber siegte der Trotz in ihr. Schließlich hatten sie sich nichts zuschulden kommen lassen, im Gegenteil.
«Halt, stehen bleiben!»
Die Männer ließen Axt und Spieß fallen, rannten zu ihnen herüber und packten sie beim Arm, der eine Eva, der andere Niklas, so gewaltsam, als seien sie gefährliche Straßenräuber.
«Kommen also doch noch ein paar Ratten aus den Löchern», blaffte der Ältere, offensichtlich ein städtischer Büttel.
Der Torwächter runzelte die Stirn. «Potztausendsapperment – die kenn ich doch. Das Bettlergesindel von gestern Abend.»
«Gesindel sind die Hundsfotte, die Euch entwischt sind», gab Eva ärgerlich zurück. «Die haben uns nämlich beklaut!»
«Das ich nicht lach! Jetzt beklaut sich das Lumpenpack schon selbst.»
«Es ist aber so. Nicht mal die Schuhe haben sie uns gelassen.» Eva starrte auf ihren zerrissenen Rocksaum, unter dem ihre nackten Zehen hervorschauten. Dann straffte sie die Schultern und sagte mit fester Stimme:
«Ich bitt Euch, lasst uns in die Stadt. Wir sind keine Unehrlichen. Wir sind arme Waisen aus Passau und müssen weiter zu unserer Muhme nach Straubing. Mein kleiner Bruder hat Hunger, und wir müssen wieder zu Schuhen kommen, wenn wir weiterwollen. Als Waisen haben wir ein Recht auf Almosen, auch als Fremde.»
«Recht auf Almosen – was für ein Gewäsch! Ein Recht auf acht Tag im Turm habt ihr, sonst nix! Ich sag euch, was ihr seid.» Der Mann holte tief Luft. «Ausgfuchste Schlitzohren seid ihr, falsche Bettler, die gutherzigen Leuten das Geld ausder Taschn ziehen. Vor der Kirch schlagt ihr zu Boden und krampft euch dann, als hättet ihr das fallende Weh. Oder reißt euch die Kleider vom Leib, damit man eure falschen Schwären und Eiterbeulen sieht. Dabei tut ihr ächzen und jammern zum Herzzerreißen, bis ihr schließlich mehr Heller nach Hause tragt als unsereins mit harter Arbeit.»
«Das ist nicht wahr!» Niklas stampfte auf.
Der Torwächter gab ihm mit der freien Hand eins gegen den Hinterkopf. «Halt die Goschn, Bettseicher. Und jetzt marsch, marsch. Ab in den Turm!»
«Ich weiß was Bessres», sagte der andere. «Kommt heut nicht die Bettelfuhr vorbei? Damit wären wir die Schmarotzer los.»
«Hast recht.»
«Wartet, nicht so schnell», rief Eva und verdrehte die Augäpfel. «Mir ist plötzlich so schummrig vor Augen.»
«Willst wohl Possen reißen mit
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