Die Vagabundin
Monatelang waren sie damals durch die Lande geirrt, fast immer zu Fuß, der kleine Niklas auf den Schultern des starken, großen Adam, Eva selbst festgeklammert an der Hand der ein Jahr älteren Schwester, ihr Vater schließlich mit dem Handkarren, der das Wenige beförderte, was man ihnen gelassen hatte. Nur selten hatten mitleidige Fuhrleute sie aufsteigen lassen. Trotz Blasen an den Füßen ging es immer weiter über mal staubtrockene, mal tief verschlammte Landstraßen, und Eva lernte erstmals brennenden Durst und quälenden Hunger kennen. Schon immer hatten die Geschwister zusammengehalten gegen den Stiefvater, diese endlosen Wochen indes machten sie zu einer verschworenen Gemeinschaft. Einmal des Nachts, als sie zitternd um ein Lagerfeuer kauerten und ihr Vater unterwegs war, um ineiner Schäferhütte nach Essensresten zu suchen, hatten sie sich feierlich gelobt, einander nie zu verlassen.
Schließlich waren sie über Ölmütz und Brünn, wo Wegelagerer ihren Karren geraubt hatten, nach Wien gekommen. Die Habsburgerstadt hatte ihr Ziel sein sollen, doch man verwehrte ihnen den Einlass. «Scheißkerle!», hatte der Stiefvater gebrüllt, «verdammtes Schelmenpack!», und dreimal gegen das Torhaus gespuckt. «Dann eben nach Passau, zu meinem Vetter.»
Sein Einfall war es auch gewesen, sich bei Einbruch der Dunkelheit auf einen Zug aus vier langgestreckten Frachtbooten zu schleichen, die am Donauufer vertäut lagen. Allerdings dauerte ihre Schiffsreise nur einen Tag, denn schon am nächsten Abend wurden sie entdeckt, und der Bootsführer warf sie in Ufernähe der Reihe nach über Bord. Nur mit Mühe erreichten Eva und Josefina das Ufer, wo ihr Stiefvater bereits mit eisiger Miene wartete, und wäre Adam nicht gewesen – der kleine Niklas wäre jämmerlich ersoffen.
«Was bist du nur für ein Mensch!» Voller Verachtung hatte Adam die Augen zusammengekniffen. «Deinen einzigen leiblichen Sohn hättst ertrinken lassen!»
«Halt dein dreckiges Maul und lass mich in Ruh!»
Da hatte Adam die Hand gegen den Älteren erhoben und ihm ins Gesicht geschlagen. Und der hatte sich nicht einmal gewehrt, ihn nur mit blödem Ausdruck angestiert. Nie würde Eva diesen Anblick vergessen!
Im Spätherbst endlich waren sie hier, im altehrwürdigen Fürstbistum Passau, gelandet. Womit keiner der Geschwister gerechnet hatte: Gallus Barbierer fand umgehend eine Anstellung. Durch die Vermittlung seines Vetters, eines dickwanstigen alten Nachtwächters, hatte er schon bald seine Dienste als städtischer Büttel antreten dürfen. Eva wusste, als Häscher, als Blutscherge stand ihr Stiefvater nun nahezu auf einer Stufemit Henker und Abdecker, und auch an seinen Kindern würde nun auf immer der Makel der Unehrlichkeit haften. Was aber weitaus schmerzhafter war: Kaum hatten sie sich einigermaßen in Passau eingerichtet, hatte Adam ihnen verkündet, dass er fortmüsse. Nach Straßburg wolle er, wo selbst Burschen wie er, ohne Vermögen und Rang, an Burse und Fakultät unterkämen. Heimlich und unter Tränen hatte er sich verabschiedet, und Eva war vor Wut und Enttäuschung mit den Fäusten auf ihn losgegangen. Ihr geliebter Bruder, den sie so bewundert hatte, der so stark und klug war, dass er es sogar geschafft hatte, ihr das Lesen und Schreiben beizubringen – ihr Adam brach den Eid und ließ sie alle schmählich im Stich. Dieser Schmerz brannte fast schlimmer als damals der Tod ihrer Mutter, denn das hier war nicht nur endgültiger Abschied, sondern auch Verrat.
«Wenn du gewinnst, trag ich dich huckepack nach Haus!»
Eva stieß ihren kleinen Bruder in die Seite, dann rannten sie beide gleichzeitig los. Immer wieder fiel Niklas auf diesen Trick herein, wenn er den weiten Weg von den Uferwiesen nach Hause nicht laufen wollte. Und wie immer ließ sie ihn, kurz vor dem Severinstor, gewinnen. Von dort trug sie ihn dann das restliche Stück durch die Gassen der Innstadt auf dem Rücken, wie versprochen.
Vor dem Haus des Torwächters rannten sie mitten in einen Menschenauflauf. Ohne zu überlegen, nutzte Eva die Gunst der Stunde und prallte mit voller Wucht gegen einen dickleibigen Herrn, einen Trödler augenscheinlich, der seine Geldkatze allzu offenherzig am Gürtel trug. Der Dicke taumelte, Eva hielt ihn einen Moment lang fest und sah ihn dabei entschuldigend an.
«Verzeiht vielmals, werter Herr, aber mein kleiner Bruder ist mir auf und davon. – Saubazi! Bleibst du wohl stehen!»
«Kinderpack!», knurrte der Mann nur, dann
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