Die Vagabundin
mir?», brummte der Torwächter, blieb aber immerhin stehen.
«Was bedeutet das – Bettelfuhr?», fragte Eva mit schwacher Stimme.
«Das bedeutet, ihr werdet auf einen Karren verfrachtet, auf einen hübschen, alten Maultierkarren, der hier in der Gegend alle fremden Bettler einsammelt und an ihren Heimatort bringt. Soll sich doch der Passauer Armenkasten um euch kümmern.»
«Ich will nicht nach Passau!» Diesmal war das Entsetzen in ihren Augen nicht gespielt.
«Zu wollen gibt’s da nix. Von dem Karren kommt keiner runter, weil man nämlich festgebunden ist.»
Eva musste nicht einen Augenblick nachdenken, was zu tun war. Blitzschnell griff ihre freie Rechte unter die Schürze und zog das Messer hervor. Bevor sich der überraschte Torwächter auch nur rühren konnte, hielt sie ihm die Klinge gegen die Kehle.
«Lasst uns los!», fauchte sie.
Die Männer gehorchten.
«Lauf, Niklas. So schnell du kannst. Rüber zum Torplatz.»
Niklas ließ sich das nicht zweimal sagen. Doch bevor er wegrannte, tat er etwas Verblüffendes: Er trat seinem Aufpasser in die Kniekehlen, sodass der umknickte wie ein gefällter Baum. Eva ihrerseits ließ ihr Knie mitten ins Geschlecht des Torwächters schnellen und rannte ebenfalls los. Ohne sich noch einmal nach den brüllenden Männern umzudrehen, hetzten sie durch die Gasse, durch die sie gekommen waren, überquerten den belebten Torplatz und schlugen einen Pfad zum Ufer der Vils ein. Im Schutz eines Wäldchens hielten sie inne, keuchend und mit schmerzenden Fußsohlen. Niemand war ihnen gefolgt.
Noch völlig außer Atem, schlug Eva ihrem Bruder auf die Schulter. «Das hast du großartig gemacht! Und wie du rennen kannst! Viel schneller als früher.»
«Ich bin ja auch gewachsen.»
Sie betrachtete ihn erstaunt. Tatsächlich – wieso war ihr das nicht früher aufgefallen? Niklas reichte ihr plötzlich bis an die Nasenspitze.
«Dass ich das nie bemerkt hab», murmelte sie. «Mensch, Niklas – da darf ich jetzt gar nicht mehr Igelchen sagen!»
Niklas grinste stolz und zufrieden zugleich.
«Doch, das darfst du.»
15
«Wo hast du das eigentlich gelernt?», fragte Niklas.
Sei saßen an der Uferböschung, füllten ihre Wasserflasche auf und kühlten ihre Füße.
«Was meinst damit?»
«Na ja, das, was du in Passau manchmal gemacht hast. Als du den Leuten was geklaut und wieder zurückgegeben hast.»
Eva starrte ihn an. Sie hatte immer geglaubt, Niklas hätte sich damals ebenso täuschen lassen wie die gefoppten Opfer.
«Das hast du gewusst?»
«Aber ja.» Er lachte.
«Das darfst niemals wem erzählen, hörst du? Sonst land ich am Galgen.»
«Am Galgen?» Niklas erbleichte. Dann schüttelte er den Kopf und hob die Hand zum Schwur. «Ehrenwort! Ich erzähl’s keinem. Und jetzt zeig es mir. Ich will es auch lernen.»
Eva zögerte. Das, was sie damals getan hatte, war eindeutig Diebstahl gewesen, wenn auch nie zum Schaden der Beklauten. Doch selbst auf solche Schelmereien standen die härtesten Leibesstrafen. Andererseits: Sie mussten schleunigst Geld auftreiben. Der Kanten Käse oder Brot, den man ihnen aus Mitleid hie und da zusteckte, hielt sie zwar gerade so auf den Beinen, aber wenn sie in den Städten nicht wieder als Haderlumpen geschmäht werden wollten, mussten sie zu Schuhen und neuer Kleidung kommen. Vor allem aber wollte Eva nicht wie elende Landstörzer bei ihrer Verwandtschaft auftauchen. Was würde das für einen Eindruck machen? Vielleicht war die Sache gar nicht so dumm, es wieder mal mit einer kleinen Gaunerei zu versuchen. Bewies ihr Niklas in letzter Zeit nicht immer wieder, dass er kein kleines Kind mehr war? Und so richtig satt essen müsste er sich auch mal wieder, so, wie sein Magen beim Einschlafen immer knurrte.
Den dritten Tag seit der Nacht in Amberg waren sie nun schon durch die Wiesen und Uferwälder der Vils gewandert, die sich hier in zahlreichen Nebenarmen und Flutmulden malerisch durch die Talaue schlängelte, rechts und links von bewaldeten Hügeln und Bergrücken begleitet. Jetzt im Frühsommer warendie Uferwege gut abgetrocknet. Meist nahmen sie die Treidelwege dicht am Flusslauf, von den Leuten hier Treppelpfade genannt. Bewusst hielten sie sich von der größeren Handelsstraße fern, die als Firstweg den Höhenzügen folgte – nicht nur der Bedrohung durch Straßenräuber wegen, sondern falls die Amberger Büttel doch nach ihnen suchen würden. Der größte Vorteil aber bot sich ihnen, ohne dass sie es geahnt hätten, bei den
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