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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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»Das einzig Sichere ist, nur noch bekannte Herren zu bedienen, Nell. Kunden, die du kennst und denen du vertraust. Das Beste wäre, einen Herrn zu finden, der dich aushält. Vorzugsweise außerhalb von Whitechapel.«
    »Das Einzigste, wo se mich halten täten, is der Zoo.«
    Mary Jane war schon einmal ausgehalten worden. In Paris, von Henry Wilcox. Er war Bankier, ein wahrhafter Finanzkoloss. Er war ohne seine Gattin ins Ausland gegangen, und statt ihrer hatte Mary Jane die Reise mit ihm angetreten. Obschon er den Leuten weiszumachen versuchte, dass sie seine Nichte sei, verstanden die Franzosen ihr kleines arrangement nur allzu gut. Als er weiterreiste, in die Schweiz, ließ er sie bei einem liederlichen alten Froschfresser zurück, an dem sie keinerlei Gefallen fand. Wie es sich ergab, hatte »Onkel Henry« sie beim Kartenspiel verloren. Paris hatte ihr wohl gefallen, und doch war sie zurückgekehrt nach London, wo sie verstand, was die Leute sprachen, und außer ihr selbst niemand mit ihrem Leben spielte.
    Als sie Whitechapel erreichten, graute bereits der Morgen. Zunächst hatte sie nicht gewusst, dass es für ihresgleichen tunlich
war, aus der Sonne fortzubleiben, und so hatte sie sich die Haut verbrannt, bis diese barst und platzte. Sie hatte Hunde gerissen, um sich an ihrem Lebenssaft zu laben. Es hatte Monate gedauert, bis sie mit anderen Neugeborenen Schritt zu halten vermochte.
    Als sie dem warmblütigen Kutscher Anweisungen erteilte, stellte sie mit heißem Schaudern fest, dass der Mann sich vor seinen Vampirpassagieren zu Tode fürchtete. Für vier Shilling Sixpence hatte sie von dem Gewürzkrämer McCarthy ein Zimmer unweit der Dorset Street gemietet. Ein Gutteil der Guinea würde sie für den Mietrückstand aufwenden müssen, damit McCarthy ihr vom Leibe blieb. Doch der Rest gehörte ihr allein. Vielleicht fand sie ja einen Bilderrahmer?
    Als sie aus der Kutsche gestiegen waren, rollte diese rasch davon und ließ sie am Bordstein zurück. Nell begleitete die Flucht des Fuhrmanns mit zotigen Gebärden und heulte wie ein drolliges Tier. Selbst um die Augen und hinter den spitzen Ohren wucherte ihr roter Pelz.
    »Marie Jeanette«, krächzte eine Stimme im Schatten. Jemand stand im Bogengang von Miller’s Court. Der Kleidung nach zu urteilen ein feiner Herr.
    Sie lächelte, als sie die Stimme erkannte.
    Dr. Seward trat aus dem Dunkel. »Ich habe die halbe Nacht auf dich gewartet«, sagte er. »Ich wollte …«
    »Sie weiß genau, was Sie wollten«, fuhr Nell dazwischen, »un’ Sie sollten sich was schäm’.«
    »Wirst du wohl still sein, Pelzgesicht«, sagte Mary Jane. »So spricht man nicht mit einem Gentleman.«
    Nell reckte ihre Schnauze in die Luft, zerrte ihr Halstuch zurecht und trottete, übertrieben schnaubend wie ein Varieté-Sternchen, davon. Mary Jane bat an ihrer Stelle um Entschuldigung.
    »Wollen Sie nicht hereinkommen, Dr. Seward?«, fragte sie. »Bald geht die Sonne auf. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf.«

    »Mit dem größten Vergnügen«, sagte er. Nervös reckte er den Hals. Das hatte sie bei ihren Kunden schon des Öfteren beobachtet. Wenn sie erst einmal gebissen waren, kamen sie immer wieder.
    »Nun gut, dann folgen Sie mir.«
    Sie führte ihn zu ihrem Zimmer und ließ ihn ein. Erste Sonnenstrahlen fielen durch das schmutzige Fenster auf die faltenlose Bettdecke. Sie schloss die Vorhänge.

32
    Früchte des Zorns
    D ie Clique war erneut geschrumpft. Mr. Waverly fehlte, wenngleich niemand auch nur eine Silbe darüber verlor. Mycroft führte wiederum den Vorsitz. Sir Mandeville Messervy saß während der gesamten Befragung wortlos und mit eingefallenem Gesicht am Tisch. Auf welchen Pfaden Beauregard in Whitechapel auch wandeln mochte, er würde niemals von den geheimen Kampagnen erfahren, die seine Dienstherren in anderen Stadtvierteln verfolgten. In Limehouse hatte der Professor das Verbrechergewerbe als Schattengesellschaft bezeichnet; Beauregard wusste, dass es auf dieser Welt von Schattenimperien geradezu wimmelte. Er genoss das Privilegium, wenn auch nur gelegentlich, einen Blick hinter die Kulissen werfen zu dürfen.
    Er erzählte von seinen Unternehmungen seit der Sache Lulu Schön, ohne dabei etwas Wichtiges auszulassen, fühlte sich jedoch keineswegs verpflichtet, von den Dingen zu berichten, die sich in Claytons Kutsche unmittelbar vor der Attacke des Vampirältesten zwischen ihm und Geneviève ereignet hatten. Insgeheim
befand er sich nach wie vor im Zweifel darüber,

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