Die Vampire
wie Algernon nichts als Verachtung übrig. Wenn sie einen makellos gekleideten Herrn erblickten, malten sie sich aus, wie er sich nackt vor Schmerzen wand und krümmte, und verlachten ihn, weil er eine ordentliche Tracht Prügel einer anständigen Partie vorzog. Mary Jane erging es anders. Vielleicht hatten sich mit ihrer Verwandlung auch ihre Empfindungen geändert, was die Dinge anbetraf, welche die Menschen miteinander trieben. Manchmal träumte sie davon, singenden
Engeln die Kehlen zu öffnen und sie zu besteigen, wenn sie mit dem Tode rangen.
»Wie sehr er euch Frauen doch liebt«, sagte Theodore. »Er schwärmt von euren ›kalten, unsterblichen Händen‹. Sonderbar.«
»Er weiß eben, was ihm gefällt«, entgegnete Mary Jane. »Es ist schließlich nichts Schändliches dabei, eine Vorliebe für das Außergewöhnliche zu hegen.«
»Nein«, pflichtete Theodore ihr zögernd bei. »Ganz und gar nichts Schändliches.«
Sie standen im Empfangszimmer. An den Wänden hingen die Porträts berühmter Männer, und alles war voller Bücher. Mary Jane hatte sich ein Bild von den Champs-Elysées aus einer illustrierten Zeitschrift herausgeschnitten und es an die Wand ihres Zimmers in Miller’s Court geheftet. Einst, als sie noch warmblütig gewesen war, hatte sie gespart für einen Rahmen, doch Joe Barnett, ihr damaliger Freier, entdeckte die Pennies in einem Krug und vertrank sie. Für ihre Geheimniskrämerei hatte er ihr ein blaues Auge geschlagen. Nach ihrer Verwandlung hatte sie Joe hinausgeworfen, nicht jedoch ohne ihm das Veilchen mit Zinsen heimzuzahlen.
Theodore gab ihnen jeder eine Guinea und geleitete sie hinaus zum Wagen. Mary Jane verstaute die Guinea sicher in ihrem Beutel, Nell hingegen musste sie in die Höhe halten, so dass sich das Mondlicht in ihr spiegelte.
Mary Jane vergaß nicht, Theodore eine gute Nacht zu wünschen und zu knicksen, wie Onkel Henry es sie gelehrt hatte. Da manche Herren neugierige Nachbarn hatten, empfahl es sich, zu tun wie eine feine Dame. Ohne sie zu beachten, verschwand Theodore im Haus, noch ehe sie sich aufgerichtet hatte.
»Himmelarsch,’ne ganze Guinea!«, rief Nell aus. »Für’ne Guinea hätt ich ihm glatt in die Schellen gebissen.«
»In die Kutsche mit dir, du ordinäres Flittchen«, schimpfte Mary Jane. »Was bildest du dir eigentlich ein?«
»Das will ich dann wohl gerne tun, Herzogin«, sagte sie und quetschte sich durch die Tür, wobei sie ihr Hinterteil kräftig hin und her schwang.
Mary Jane folgte ihr in den Wagen und setzte sich.
»He, du«, brüllte Nell den Fuhrmann an, »na’ Haus, un’ mach den Gäulen bisschen Dampf.«
Mit einem Ruck setzte sich die Droschke in Bewegung. Nell spielte noch immer mit ihrer Goldmünze. Sie hatte versucht, sie durchzubeißen. Nun polierte sie das gute Stück mit ihrem Halstuch.
»Die nächsten vier Wochen bin ich runter vonne Straße«, sagte sie und leckte sich die Fangzähne. »Ich zieh rauf ins West End, such mir’nen Gardisten mit’nem Schwengel wie’n Feuerwehrschlauch un’ saug dem Burschen den Saft aus den Adern.«
»Und wenn das Geld alle ist, stehst du wieder in der Gosse und legst dich in den Dreck, damit irgendein schwabbeliger Suffkopp dich besteigen kann.«
Nell zuckte mit den Achseln. »Ich glaub kaum, dass ich’n Prinzen heiraten werd. Genauso wenig wie du, Marie Jeanette de Kelly.«
»Ich stell mich nicht mehr auf die Straße.«
»Bloß weil über dem Bett, wo drin de vögeln tust,’n Dach is, isses noch lang keine Kirche.«
»Keine Fremden mehr, so viel ist sicher. Nur noch Herren, die ich kenne.«
»Un’ wie ich die kenne.«
»Du solltest auf mich hören. Wenn ich’s dir doch sag, es ist nicht ungefährlich, dieser Nächte auf der Straße. Solang der Ripper unterwegs ist.«
Nell blieb ungerührt. »In Whitechapel müsster bis in alle
Ewichkeit jede Nacht’ne Hur abmetzeln, bis er an mich kommt. Es gibt Tausende wie uns, un’ die wird’s auch noch geben, wenn der längst inner Hölle schmort.«
»Er metzelt sie jetzt zwei auf einmal.«
»Geh mir doch fort!«
»Du weißt genau, dass es stimmt, Nell,’s ist schon über eine Woche her, dass er sich an Cathy Eddowes und der Stride vergangen hat. Der kommt wieder.«
»Den will ich sehn, wenner so was bei mir probiern tut«, sagte Nell. Sie knurrte, und ihre Wolfszähne schimmerten. »Dem tät ich erst’s Herz rausreißen, un’ dann tät ich das Scheißding fressen.«
Mary Jane musste lachen. Doch es war ihr voller Ernst.
Weitere Kostenlose Bücher