Die Verbannung
»So, Tink, dann wollen wir mal unser Glück versuchen.«
2. KAPITEL
Die Tür war schmal, bestand aber aus zwei massiven Flügeln, von denen jeder nicht ganz so breit wie Dylans Schultern war; über seinem Kopf liefen sie zu einem gotischen Spitzbogen zusammen. Dahinter schien sich ein dämmriges Gewölbe zu erstrecken, ein Treppenschacht, wie Dylan, der durch eine Luke spähte, nach genauerem Hinsehen erkannte.
»Richtig«, bestätigte Sinann. »Es ist eine Wendeltreppe; sie dient den Bewohnern dieses Hauses als erste Verteidigungslinie. Sie dreht sich im Uhrzeigersinn, das heißt, sie ist für Rechtshänder gedacht. Siehst du, wie die Fenster eingesetzt sind?« Sie deutete nach oben, und Dylan begriff, was sie meinte. Auf jedem Treppenabsatz gab es ein Doppelfenster, wobei die eine Hälfte immer etwas höher in die Wand eingelassen war als die andere. Daran konnte man schon von außen sehen, wie die Treppe verlief. »Linkshänder bauen solche Treppen entgegengesetzt zum Uhrzeigersinn. Hier sind allerdings Tür und Treppenhaus extrem eng.« Sinann zeigte auf ein kleines Fenster knapp oberhalb des Fußbodens. »Die Stufen führen auch nach unten. Pass auf, dass du nicht in eine Falle gerätst. Es wird allmählich langweilig, dich andauernd aus heiklen Situationen retten zu müssen.«
Dylan warf ihr einen bösen Blick zu, klopfte an die Tür und flüsterte der Fee zu: »Am besten frage ich ohne Umschweife nach Ramsay.«
»Zieh wenigstens deinen Dolch. Man kann nie wissen ...«
»Nein.« Ein Flügel der Tür wurde geöffnet, ein Mann steckte den Kopf heraus und musterte Dylan aus einem wässrigen Auge finster. Wo das andere gewesen war, gähnte nur noch eine leere Wölbung. Er schien sich seit zwei oder drei Tagen nicht mehr rasiert zu haben, seine Kleider waren schmutzig und zerschlissen, trotzdem betrachtete er Dylan so geringschätzig von Kopf bis Fuß, als würde er den Anblick seines Kilts als persönliche Beleidigung empfinden. Dann bellte er auf Englisch: »Wir haben keine Arbeit für Vagabunden! Scher dich fort!« Damit schlug er Dylan die Tür vor der Nase zu.
»Oha.« Dylan nagte an seiner Lippe, dann zwinkerte er Sinann zu. »Der Kerl hat keine Ahnung, mit wem er es zu tun hat. Soll ich ihm Manieren beibringen?«
»Gib ihm deinen Dolch zu schmecken!« Sinann schien in bemerkenswert blutrünstiger Stimmung zu sein.
Dylan schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe eine bessere Idee.« Er hämmerte erneut an die Tür, und als sie wieder aufgerissen wurde, setzte er ein breites Grinsen auf und stürmte unter einem Schwall von Entschuldigungen, wobei er sich eines affektierten englischen Tonfalls bediente, an dem Einäugigen vorbei ins Haus. »Guter Mann«, näselte er dann, »ich fürchte, hier liegt ein Missverständnis vor. Ich bin Charles Emerson Winchester III. zu Euren Diensten, und ich hätte gern ein Wort mit Eurem Arbeitgeber gewechselt.«
Der überrumpelte Mann ergriff automatisch die ihm dargebotene Hand, woraufhin Dylan die Maske fallen ließ, beide Hände um das Handgelenk des Einäugigen schloss und es kräftig verdrehte. Der Mann schnappte nach Luft und versuchte verzweifelt, sich aus dem eisernen Griff zu befreien, doch Dylan verstärkte den Druck und sagte immer noch lächelnd in seinem gedehnten heimatlichen Tennessee-Dialekt: »Und jetzt bring mich zu Ramsay, sonst breche ich dir den Arm.«
Der Einäugige wich mit schmerzverzerrtem Gesicht zur Wand des Treppenschachtes zurück und machte Anstalten, die Stufen hinunterzugehen. »Nach oben«, befahl Dylan, mit dem Kinn in die entgegengesetzte Richtung deutend. »Ihr zuerst. Vorwärts!« Sinann kicherte.
Der Mann gehorchte und begann rückwärts die in engen Spiralen verlaufende Wendeltreppe hinaufzusteigen. Sein Auge quoll vor Schmerz aus den Höhlen. Offenbar fürchtete er, Dylan könne seine Drohung wahr machen. Sie stiegen vier oder fünf Treppenabsätze empor, bis der Einäugige auf einem Absatz Halt machte und mit dem Rücken eine mit glänzender schwarzer Farbe gestrichene Tür aufstieß. Sie führte in ein weiß getünchtes Büro, in dem es nach Staub, Tinte und altem Papier roch.
Ein junger Mann, der an einem schweren Eichenholzschreibtisch gesessen hatte, sprang auf, als der Pförtner, gefolgt von Dylan, rückwärts in den Raum stolperte. »Großer Gott! Was geht denn hier vor?«
»Ich möchte augenblicklich mit Mr. Ramsay sprechen«, verlangte Dylan.
Der junge Mann war schlank, fast schmächtig, hatte eine dünne, piepsige
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