Die Verbannung
Sie etwas brauchen …«
Wie jedesmal, wenn er einen geschlossenen Raum verließ, lief Stefano zunächst einen Augenblick ziellos, nur um zu gehen. Der Wein war unterdessen verraucht, und zwischen den Häusern war grünlich bleich der Horizont zu sehen. Das war das Meer, fern und bewegt wie immer, aber farblos wie der Feigenkaktus an dem schlechten Weg über den Strand. Monatelang würde es diese unnatürliche Blässe nicht mehr ablegen. So wie sich Stefanos sommerliche Bräune verloren hatte, wurde auch das Meer wieder zur Wand einer Zelle.
Den ganzen Nachmittag spürte er die eisige Kälte der roten Fliesen in seinen Beinen und mußte deshalb an Concias nackte Waden denken, und ob sie immer noch barfuß über den Küchenboden ging. Seit wann war er ihr nicht mehr unter der Tür eines Ladens begegnet? Noch war es hell, als wieder Regentropfen auf die Kiesel der Straßen fielen. Müde und steif kehrte Stefano nach Hause zurück, hüllte sich in seinen Mantel, setzte sich ans Fenster, stützte die Füße gegen das erloschene Kohlenbecken, und langsam fielen ihm die Augen zu.
Diese gewohnte Haltung hatte irgendwie etwas Behagliches, wie wenn ein Junge eine Höhle im Wald gefunden hat, sich darin zusammenkauert und dann Unwetter und Wildnis spielt. Sanf rauschte der Regen. Stefano bereitete sich an diesem Abend draußen im Regen ein bißchen Glut. Als er das Becken hineintrug, erwärmte ihr kräfiger Widerschein ihm das Gesicht. Er machte sich ein bißchen Wasser heiß und preßte eine Orange darin aus. Die Schalen, die er in die Asche geworfen hatte, erfüllten die Luf mit ihrem herben Duf. Wenn man mit nassen Haaren von dem kurzen Aufenthalt im Hof ins Haus zurückkam, dann war das, wie wenn man an einem Regentag vom Spaziergang in die leere Zelle zurückkam. Und als er sich wieder setzte und seine Pfeife anzündete, lächelte Stefano voll Dankbarkeit für diese Wärme und diesen Frieden vor sich hin und auch für seine Einsamkeit, die ihn mit ihrem Schweigen beim Rauschen des Regens draußen einschläferte.
Stefano dachte an ihr lange währendes Schweigen an den Abenden, wenn Giannino seine Wange auf die Stuhllehne stützte und nichts sagte. Nichts hatte sich seither geändert. Auch Giannino saß zu dieser Stunde auf seinem Bett und lauschte schweigend. Er hatte kein Kohlenbecken, und seine Gedanken fanden keinen Schlaf. Vielleicht aber lachte er. Stefano erinnerte sich undeutlich der Worte seiner Mutter, seiner eigenen Worte. Weder sie, noch die Braut, noch sonst wer wußte, daß das Gefängnis das Alleinsein lehrt. Ohne die Augen zu wenden, fühlte Stefano in seinem Rücken das ganze, von Elena aufgeräumte Zimmer. Noch einmal hörte er Elenas Wimmern. Er dachte daran, daß er sie unsanf, aber ohne Haß behandelt hatte, und daß er jetzt, da er allein war, so an sie denken konnte, wie niemand an ihn dachte.
In Wirklichkeit dachte jemand an Stefano, aber die Briefe, die sich in der Schublade seines Tisches häufen, wußten nichts von den wirklichen Augenblicken seines jetzigen Lebens und beharrten pathetisch auf dem, was Stefano längst von sich vergessen hatte. Seine Antworten waren trocken und lakonisch, denn wer ihm schrieb, deutete sie trotz allen seinen Warnungen ohnehin auf seine Weise. Im übrigen hatte sich auch in Stefano langsam jede Erinnerung und jedes Wort verwandelt, und wenn er eine Ansichtskarte erhielt, auf der ein Ort oder eine Landschaf abgebildet waren, die er einst gekannt hatte, wunderte er sich manchmal über sich selbst, daß er an diesem Ort gewesen war und dort gelebt hatte.
Tags begann Stefano in diesem Winter – wenn er ein wenig Wein getrunken hatte – wieder die Straße mit dem Geranienhaus entlangzugehen. Nicht mehr, um bei seiner Wanderung dem Horizont entgegen eine harmlose und wahrhaf sommerliche Erregung abzureagieren, sondern um seine Gedanken zu sammeln, die ihm helfen sollten. Der Wein stimmte ihn nachsichtig und gab ihm den ruhigen Mut, sich aus seiner Einsamkeit heraus in dem Dorf so leben zu sehen, wie er wirklich lebte. Sein Ich wenige Augenblicke zuvor stand ihm jetzt genau so fern wie der Fremde aus seinem früheren Leben und selbst wie der Unbekannte, der er in der Zelle gewesen war. Daß die Straße, die er entlangging, Concias Straße war, spielte keine große Rolle, ja es machte ihn eher ungeduldig. Als er an die unsichtbare Barriere dachte, die er zwischen sich und Concia errichtet hatte, mutmaßte er zum ersten Mal eindeutig die Natur seines Leidens und
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