Die Verbannung
ablaufen, und die Trunkenheit mit dem Tageslicht verfliegt und immer noch Zeit hingebracht werden muß; wenn nichts zu der Trunkenheit hinzutritt und ihr einen Sinn verleiht, dann hat auch der Wein keinen Sinn. Stefano fand, daß nichts schlimmer gewesen wäre als dieser Krug Wein in der täglichen Zelle der Zeit. Und doch hatte er ihn sich gewünscht. Und sicher dachte auch Giannino daran. Vielleicht hätte es Giannino glücklich gemacht, dachte Stefano, wenn er sich einmal hätte betrinken können. Vielleicht ist Gefangensein nur dies: die Unmöglichkeit, sich zu betrinken, die Zeit zu vertreiben, einen außergewöhnlichen Abend zu erleben. Aber Stefano wußte, daß er etwas hatte, was Giannino nicht hatte: eine heiße, nicht zu zügelnde fleischliche Begierde, die ihn die Unordnung der Bettlaken und den Schmutz der Decken vergessen ließ, während, zumindest anfangs, die Zelle, ebenso wie Krankheit und Hunger, diese Begierde abtötet.
Im trüben Dunkel dieser letzten Tage im Jahr kostete Stefano nämlich den letzten Hauch einer lauen Wärme in seinem Körper aus, eines Funkens, der trotz seiner vollständigen Gleichgültigkeit jedem anderen Kontakt oder Ereignis gegenüber noch in ihm glühte. Es gab wahrhafig den einen oder anderen fahlen Morgen, an dem nichts anderes geschah, als daß er mit einem schmerzhafen Verlangen erwachte. Das war ein trauriges Erwachen, das dem eines Menschen glich, der im Gefängnis während des Schlafes seine Einsamkeit vergessen hat. Und zwischen den vier Wänden seines in sich abgeschlossenen Tages geschah nichts anderes. Stefano sprach mit Gaetano ohne allen Stolz darüber. »Wer weiß, warum man im Winter so erregt ist?« Gaetano hörte nachsichtig zu.
»Manchmal denke ich, daß das von der Sonne am Strand kommt. Ich bin so viel an der Sonne gewesen, und jetzt spüre ich das … Oder vielleicht ist es der Pfeffer, den ihr an eure Saucen tut … Ich fange an, Gianninos Vergewaltigungen und die von euch anderen zu verstehen. Ich komme mir vor wie ein Feigenkaktus. Ich sehe nur noch Wachteln.«
»Das will ich meinen«, murmelte Gaetano. »Mann bleibt Mann.«
»Was meint Pierino dazu?« wandte er sich an den Zöllner, der in seinen Umhang gehüllt am Schanktisch lehnte und rauchte.
»Jedes Land hat seine Krankheiten«, antwortete der. »Bitten Sie doch den Wachtmeister um Urlaub.« »Fenoaltea, nehmen Sie mich mit auf die Wachteljagd«, jammerte Stefano.
Sie gingen ein paar Schritte auf der Straße mit den Olivenbäumen, die jetzt auch kahl und von kleinen Rinnsalen durchpflügt war. Beim Gehen spähte Stefano zum Gipfel des Hügels hinauf.
»Geht man im Winter nicht mehr dort hinauf?« »Was wollen Sie dort sehen? Den Rundblick?« fragte Pierino.
»Er meint doch, um sich die Füße zu vertreten«, antwortete Gaetano in Gedanken.
»Wenn Sie nachts wie ich allein dienstlich unterwegs wären, hätten Sie es nicht nötig, sich die Füße zu vertreten.«
»Aber Sie stehen ja dafür auch im Dienst der Regierung«, sagte Stefano.
»Auch Sie stehen in ihrem Dienst, Herr Ingenieur«, gab Pierino zurück.
Gegen Weihnachten kam wieder ein wenig Leben in das Dorf. Stefano hatte rotznäsige barfüßige Jungen mit Trompeten und Triangeln um die Häuser herumziehen sehen, die mit schrillen Stimmen sangen und ein frohes Fest wünschten. Dann warteten sie geduldig, bis jemand herauskam – eine Frau oder ein alter Mann –, der ein bißchen Kuchen, getrocknete Feigen, Orangen oder Geld in ihre Tasche tat. Sie kamen auch – zwei Mal – in seinen Hof, und obwohl ihr Lärm Stefano störte, war er doch froh darüber, daß sie ihn nicht vergessen hatten, und gab ihnen ein paar Groschen und eine Tafel Schokolade. Die Jungen sangen ihr Liedchen noch einmal, sie hatten die gleichen lachenden, tiefen Augen wie Giannino, wie der Autoschlosser, wie alle jungen Leute in diesem Land, und er blieb verwundert darüber zurück, daß er so leicht zu rühren gewesen war.
In Fenoalteas Lebensmittelgeschäf gab es in diesen Tagen recht viel Arbeit, und Gaetano stand immer zusammen mit seinem Vater und seinen Tanten hinter dem Ladentisch. Es kamen Bauern, arme Frauen, barfüßige Mägde, Leute, die nicht immer das tägliche Brot hatten; sie ließen ihr Eselchen vor der Tür stehen und kaufen, vielleicht schon auf die künfige Ernte hin, Zimt, Nelken, feines Mehl und Gewürze für das Weihnachtsgebäck. Der alte Fenoaltea sagte zu Stefano: »Das ist unsere Jahreszeit. Wenn Weihnachten nicht wäre, müßten
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