Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
konnte keine Rede sein, denn die Mütze sah abgegriffen aus, als wäre sie seit Generationen vom Vater auf den Sohn vererbt worden. Im nächsten Moment fiel Marion die Klimatabelle ein, die in ihrem Reiseführer abgedruckt war. In wenigen Wochen würden die Temperaturen hier in Xinjiang auf minus zwanzig, vielleicht sogar minus dreißig Grad fallen, und wer dann nicht ausreichend geschützt war, dem froren die Ohren ab. Ihre Wertvorstellungen mochten für Europa gelten, hier waren sie eher hinfällig. Ein wenig beschämt wandte sich Marion ab.
Ihre nachdenkliche Stimmung verflog schnell, während sie sich weitertreiben ließ, vorbei an einer Gruppe verschleierter Uighurinnen, die vor einem Stoffgeschäft preiswerte, schreiend bunte Kunstfasergewebe prüfend zwischen ihren Fingern rieben. Vorbei an einem winzigen Lokal, aus dessen dunkler Türöffnung der Duft von würzigem Eintopf und eine summende Wolke Fliegen quoll, vorbei an einer jungen Mutter, die ihren kleinen Jungen über die Gosse hielt, direkt neben einem dichtbesetzten Tisch, dessen graubärtige Gesellschaft unbekümmert dabei zusah, wie der Kleine sein Geschäft verrichtete.
Dies ist das wahre Kashgar, dachte Marion, als sie mit einer Gruppe vorwitziger Jungen im Gefolge durch die Basare schlenderte, das alte Kashgar, seit Jahrtausenden mit den Geschicken der Seidenstraße verwoben, unzählige Male erobert und doch nie untergegangen. Welten trennten es von dem chinesischen Teil der Stadt mit seinen fantasielosen Wohnblocks und Bürohäusern, deren Fassaden mit den ewig gleichen, ungemein praktischen und ebenso hässlichen Kacheln überzogen waren und die immer ein wenig so aussahen, als hätte man ein heruntergekommenes Schwimmbad von innen nach außen gestülpt.
Sie kaufte einem Mann, auf dessen Oberlippe ein Schnurrbart prangte, ein paar honigtriefende Süßigkeiten ab und verteilte sie an die spottlustigen Jungen. Dann bummelte sie weiter bis zu dem weiten Platz vor der Großen Moschee Kashgars, auf dem sich Hunderte von Männern zum Freitagsgebet versammelt hatten. Sie setzte sich auf die gemauerte Umfassung eines Blumenbeets und sah zu, wie die Menschenmassen durch das große Hauptportal strömten, das vermutlich in einen nicht überdachten Innenhof führte, denn über die gelb gestrichenen Umfassungsmauern ragte ein ganzer Pappelwald. Überhaupt schien die Moschee nur aus der Mauer zu bestehen, in die in regelmäßigen Abständen mehrere Meter hohe, spitzgiebelige Nischen eingelassen waren. Die Nischen bildeten den passenden Rahmen für die dort angebrachten, auf glasierte Kacheln geschriebenen arabischen Sätze, von denen Marion annahm, dass es sich um Koranverse handelte. Der höchste und auffälligste Gebäudeteil war das von einem leicht schiefen Minarett flankierte Tor. Marion war erstaunt, wie bescheiden die Große Moschee wirkte, obwohl sie gelesen hatte, dass der Innenhof bis zu zwanzigtausend Menschen fassen konnte. Sie hatte ein beeindruckendes Bauwerk wie die Alabastermoschee und Al-Azhar in Kairo oder Istanbuls Blaue Moschee erwartet, aber das war natürlich Unsinn. Kashgar war viel zu klein für ein derartiges Monument.
Wenig später lag der Platz verlassen da. Marion nutzte den unbeobachteten Moment und holte das Kästchen aus der Tasche. Bevor sie es Kommissar Li gab, wollte sie es sich wenigstens einmal genau ansehen.
Das Kästchen maß etwa fünfzehn mal acht Zentimeter und war sehr flach, höchstens drei oder vier Zentimeter hoch. Ein schmutziges Band hielt Unterteil und Deckel zusammen. Ein Teil des Deckels war abgebrochen und die mit verschlungenen Mustern verzierte Oberfläche stark beschädigt. Es sah aus wie eine sehr alte Lackarbeit.
Als sie das Kästchen in den Händen drehte, bewegten sich im Inneren mehrere Gegenstände. Sie war unschlüssig, ob sie das Band lösen sollte. Das Kästchen konnte für die Ermittlungen in dem Mordfall wichtig sein, und dafür war es besser, wenn es in dem Zustand blieb, in dem sie es gefunden hatte. Sie schüttelte es. Das Klappern der geheimnisvollen Dinge, die sich in der Kiste verbargen, war zu verlockend …
Marion streifte das Band ab. Es würde schon nicht die Büchse der Pandora sein.
In dem Kästchen lag die vordere Hälfte einer zerbrochenen Pferdefigur aus dunkelgrüner Jade. Auf dem Tierkörper glänzten mit Gold eingelegte chinesische Schriftzeichen, und ein kleiner roter Stein, vielleicht ein Rubin, war als Auge eingesetzt worden. Ein extrem fein geschnitztes
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