Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
ahnte, dass es eine Verbindung gab. Ihr Blick blieb an der achtlos hingeworfenen Jacke hängen und langsam dämmerte ihr, was der Einbrecher haben wollte: das Kästchen. Der Einbrecher hatte nach dem Kästchen gesucht.
Marion bekam Angst. Wenn sie recht hatte, bedeutete es im Umkehrschluss, dass der Einbrecher auch der Mörder war – oder zumindest mit dem Mörder unter einer Decke steckte. Vielleicht beobachtete er sie schon seit diesem Abend und hatte nun ihre Abwesenheit genutzt. Sie schlug sich vor die Stirn. Natürlich! Der Mörder musste unter den Schaulustigen gestanden haben, die in der Gasse zusammengelaufen waren, nachdem sie den Toten gefunden hatte. Ihr Geschrei war laut genug gewesen, um die gesamte Nachbarschaft zu wecken. Wahrscheinlich hatte der Mörder im Schutz der Dunkelheit weiter nach seinem Opfer gesucht, und Marion war ihm zuvorgekommen. Nur eines verstand sie nicht: Warum nahm er an, dass sie das Kästchen besaß? Er musste doch davon ausgehen, dass sie es der Polizei gegeben hatte? War er bei ihr eingebrochen, um sich zu vergewissern, dass sie es nicht hatte?
Marion kaute nervös auf ihrer Unterlippe. Die Sache war ganz schön heiß. In diesem Moment bemerkte sie, dass die Zimmertür noch offen stand. In dem schlecht beleuchteten Flur befand sich keine Menschenseele. Marion knallte die Tür zu und durchwühlte ihre Sachen hektisch nach dem Zettel mit Li Yandaos Handynummer.
* * *
Der alte Chinese mit den langen weißen Haaren öffnete den Mund. Grüne Lichtblitze schossen heraus und trafen seinen Gegner, einen grimmigen jungen Mann in einem Harnisch aus Metallplättchen, direkt vor die Brust. Der Mann flog zwanzig Meter durch die Luft, bis er scheppernd gegen einen steinernen Löwen prallte. Gerade als sich der Alte auf den jungen Krieger stürzen wollte, fing das Bild an zu rauschen, und es waren nur noch schattenhafte Umrisse des Kampfes zu erkennen.
Li Yandao bemerkte es nicht. Er lag auf seiner abgewetzten Schlafcouch und folgte mit den Augen den Umrissen eines feuchten Flecks unter der Decke, der seit Wochen eine interessante Metamorphose durchlief. Heute hatte er Ähnlichkeit mit einer Schildkröte.
Li Yandao fragte sich, warum die Mieter über ihm nicht merkten, dass sie einen Wasserschaden angerichtet hatten. Jeden Tag nahm er sich aufs Neue vor, ihnen einen Besuch abzustatten, konnte sich aber nicht dazu aufraffen. Allein die Tatsache, dass er Polizist war, genügte, um ein normales Gespräch mit seinen Nachbarn zu verhindern. Nicht zum ersten Mal bereute er es, beim Büro für Öffentliche Sicherheit zu arbeiten. Die Polizeiarbeit widerte ihn zunehmend an. Nein, das stimmte nicht ganz. Nicht die Arbeit widerte ihn an, sondern die Polizei und ihre Methoden. Vor fünfzehn Jahren hatte er die Polizei-Offiziersschule des Chinesischen Volkes verlassen, aber von seinem anfänglichen Enthusiasmus war nicht mehr viel geblieben, was ihn noch zur Arbeit motivierte.
Li Yandao ging zu dem kleinen Gaskocher unter dem Fenster, um sich einen Tee aufzubrühen. Während er wartete, bis das Wasser kochte, dachte er an den toten Uighuren in der Röhre. Er hatte kein Recht, sich in Selbstmitleid zu wälzen, während der Mörder des jungen Mannes frei herumlief. Als Kriminalkommissar war es seine Pflicht, den Täter zu fassen.
Der Empfang war wieder klar. Mit der Tasse heißem Tee in der Hand blieb Li Yandao vor dem Fernseher stehen. Eine engelszarte Frau mit Kung-Fu-Kenntnissen hielt drei oder vier Dutzend Räuber in Schach, ohne sich die Frisur zu zerstören. Daneben standen die Soldaten des Kaisers und sammelten die Bösewichter ein. Li Yandao schaltete den Fernseher ab. So einfach würde es nicht werden.
In diesem Moment klingelte sein Handy.
* * *
Die Rezeption war verwaist, als er das Seman-Hotel betrat. In der dunkelsten Ecke der Halle schlief der Nachtportier zusammengerollt auf einem der Sessel und rührte sich auch dann nicht, als Li Yandao ihn ansprach. Damit war das erste Rätsel gelöst: Wer auch immer sich Zugang zu Ma Li Huos Hotelzimmer verschaffen wollte, brauchte sich nur hinter den Rezeptionstresen zu schleichen und eine der elektronischen Schlüsselkarten auf ihre Zimmernummer zu programmieren. Nichts war einfacher als das, wenn der Computer eingeschaltet war. Der Kommissar beugte sich über den Tresen. Der Computer lief, und ein Stapel der Karten lag daneben. So viel zur Sicherheit der neuen Technik. Er verließ die Eingangshalle und stieg die Treppe zu den
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