Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
Gästezimmern hinauf.
Als er gerade bei Ma Li Huo klopfen wollte, öffnete sich die Tür des Nachbarzimmers. Eine junge Chinesin trat auf den Gang, sah prüfend an sich hinunter und wandte sich zum Gehen. Li Yandao hielt sie auf.
»Guten Abend. Wollen Sie so spät noch ausgehen?«
Die junge Frau musterte ihn abschätzend. Ihre Augenlider waren in leuchtendem Rosa und Violett geschminkt, und das Gesicht war stark gepudert. Im Halbdunkel des Flurs sah die Frau aus wie ein Geist.
»Ja, warum nicht?«
»Ich wusste nicht, dass es in Kashgar nach zweiundzwanzig Uhr noch ein Nachtleben gibt.«
»Es ist nicht so aufregend wie in Xi’an, aber langweilig ist es hier auch nicht.« Sie zwinkerte ihm eindeutig zu.
Li Yandao war erstaunt. Nicht über ihre Dreistigkeit, sondern dass sie seinen Dialekt erkannt hatte.
»Sie sind eine gute Beobachterin. Ich stamme tatsächlich aus Xi’an. Wie unhöflich von mir, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe: Polizeikommissar Li Yandao.«
Die junge Frau wurde unter ihrem Puder noch blasser und versuchte, an Li Yandao vorbei in Richtung der Treppe zu eilen. Aber er hatte damit gerechnet und hielt sie am Arm fest.
»Keine Sorge, meine Dame, ich will Sie nicht um Ihren Feierabend bringen. Ich ermittle in einem Fall, und Sie können mir eventuell helfen, indem Sie meine Fragen beantworten.«
»Wie sollte ich Ihnen helfen können? Ich tue nichts Illegales.« Sie konnte ihre Angst nicht verbergen. Prostitution war in China ein schweres Vergehen.
Li Yandao deutete mit dem Daumen auf die Tür, aus der sie gekommen war. »Wie lange waren Sie bei dem Herrn?«
»Etwa zwei Stunden. Vielleicht länger«, antwortete sie.
»Ist Ihnen etwas aufgefallen? Etwas Ungewöhnliches?«
»Ungewöhnliches? Nein, außer dass der ›Herr‹ ein wenig … nun, das dürfte Sie kaum interessieren.«
Li Yandao grinste das Mädchen an. »Ich bin ein sehr neugieriger Mensch. Aber jetzt bitte ernsthaft: Haben Sie Geräusche aus dem angrenzenden Zimmer gehört?«
»Jetzt, wo Sie es erwähnen, fällt es mir wieder ein: Wir hörten lautes Gepolter, als würden Möbel gerückt.«
»Können Sie sich an die Zeit erinnern?«
»Ich war gerade angekommen, also etwa zwischen zehn und halb elf. Und dann hörte ich, wie sich zwei Männer laut auf Uighurisch unterhielten.«
»Konnten Sie verstehen, was die Männer gesagt haben?«
»Nein. Ich spreche kaum Uighurisch. Aber ich lebe in Kashgar, deshalb erkenne ich die Sprache.«
»Ihr Kunde, war das ein Tourist?«
»Nein. Ein Uighure.«
Li Yandao notierte die Personalien des Mädchens, dann setzte er sein harmlosestes Gesicht auf. »Eine Frage habe ich noch: Wie funktioniert die Kommunikation zwischen Geschäftspartnern, wenn man keine gemeinsame Sprache hat?«
Die Prostituierte funkelte ihn wütend an. Sie setzte zu einer Erwiderung an, überlegte es sich aber anders und stolzierte mit durchgedrücktem Rücken davon. Li Yandao sah ihr amüsiert nach. Als sie an der Treppe um die Ecke bog, warf sie ihm einen letzten skeptischen Blick zu.
Li Yandao klopfte bereits an Ma Li Huos Zimmertür. Meine allnächtlichen Besuche bei dieser deutschen Dame werden mich noch in Verruf bringen, dachte er.
Nachdem Marion Li Yandao angerufen hatte, kreisten ihre Gedanken unaufhörlich um das geheimnisvolle Kästchen. Das einzig Vernünftige war, es dem Kommissar zu geben und ihm ihre Vermutungen über den Zusammenhang der beiden Vorfälle mitzuteilen.
Marion untersuchte die mysteriöse Pferdefigur noch einmal eingehend. Der Stein fühlte sich sehr weich an und wurde in ihren Händen warm. Das Auge hingegen strahlte etwas Aggressives aus. Vielleicht lag es an seiner tiefroten, fast schwarzen Farbe. Unbehaglich glitt Marions Blick zu den goldenen Buchstaben zurück, die so meisterhaft in die Jade eingearbeitet waren, dass sie keinerlei Erhebungen oder Vertiefungen ertasten konnte.
Woher kam die Pferdefirgur? Wie alt war sie, wer hatte sie gefertigt und warum war sie zerstört worden? Sie hatte eine mächtige Wirkung auf Marion, und je länger sie die Figur betrachtete, desto weniger war sie gewillt, sie wieder aus der Hand zu geben.
War der Reiz des Pferdes tatsächlich so stark, dass jemand dafür einen Mord begehen würde? Marion schüttelte sich. Sie ganz sicher nicht. Als es an der Tür klopfte, stand Marions Entschluss fest: Sie würde unvernünftig sein und Li Yandao das Kästchen verschweigen. Erst wollte sie herausfinden, worum es sich bei diesem Schatz
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