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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
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behaglichen Rundungen seines heimischen, vertrauten Schwarzwaldes zurückzusehen. Dabei entdeckte er, viel ferner und ganz klein, in Golddunst gehüllt, die Schneeberge der Berner Alpen, von denen er soeben herkam. Heinrich Hummel riß den Hut vom Kopfe. Ein überwältigendes Gefühl von der Schönheit dieser Erde und von den Freuden, die sie für ihn im Schoße hielt, durchrieselte ihn. Er war in Ferienstimmung, hatte zu Hause in Jena sein medizinisches Staatsexamen beendet und sich nun, ehe er die Assistentenstelle antrat, die dort an der Universitätsklinik auf ihn wartete, eine Erholungsreise nach der Schweiz gegönnt. Eben kam er von dort zurück. Und jetzt wollte er im Elsaß einmal seine »verwelschte Sippe« besichtigen, von der man daheim halb mißbilligend, halb neugierig zu sprechen pflegte, und die ihm ganz fremd war.
    Die Hummels stammten vom Rhein, ein Teil hatte sich schon im sechzehnten Jahrhundert nach Thüringen abgezweigt und wurde dort protestantisch, während ein einzelner von Köln nach Frankreich hinabging, sich in Straßburg festheiratete, dort eine Pastetenfabrik gründete und viele Kinder hatte. Einer seiner Söhne übersetzte die deutsche Hummel in einen französischen Bourdon und erwarb sich in Thurwiller eine Apotheke. Zu dem jetzigen Besitzer dieser Apotheke zum »Bourdon d'or«, Camille Bourdon mit Namen, war der junge Heinrich unterwegs.
    Mit seinen langen Schritten überholte er ein altes Weiblein, die ihr Reisigbündel hinter sich herschlidderte und damit auf der staubigen Chaussee große, durchsonnte Wolken aufwirbelte.
    »Buschur, monsieur,« sagte die Alte.
    »Bonjour.« Und in seinem besten Französisch fragte er sie, wie weit es noch sei bis Thurwiller.
    Das Weiblein riß den zahnlosen Mund weit auf.
    » Oh excusez, monsieur, i verstand Euch net, i verstand halt nur Elsässer-Ditsch!«
    Hummel war beinahe enttäuscht. Freilich hatte er als guter Patriot gehofft, das Elsaß deutsch zu finden, recht deutsch; aber daneben hegte er doch in seinem Herzen die übliche Bewunderung seiner Zeit für alles Französische.
    Gleich hinter den Grenzpfählen hatte er denn auch in den weniger streng geforsteten Wäldern, der malerischen Unordnung der Dörfer sowie in dem verwahrlosten Zustande der Landstraßen die erwarteten Symptome zu sehen gemeint; die ungewohnte Höflichkeit der Zollbeamten hatte ihn entzückt. Aber auch dort war die Sprache zu seinem Erstaunen deutsch, das Deutsch des sechzehnten Jahrhunderts. Mülhausen wieder hatte ihm in seiner zwar eleganten, aber wohlgeordneten Sauberkeit und Nüchternheit ganz den Eindruck einer deutsch-schweizerischen Stadt gemacht. Die Arbeiter dort redeten ein altertümliches Alemannisch, im Hotel aber hatten Gäste und Kellner ein süddeutsch betontes Französisch seinem Deutscherwidert. So war er noch zu keiner klaren Anschauung über diese Volksart gelangt. Und daran hielt er doch!
    Die Straße, die sich eine Weile gesenkt hatte, fing wieder an zu steigen. Und er sah nun die kleine Landstadt vor sich, freundlich aufgebaut in der grünen Schüssel ihrer Wallwiesen. Ihre schrägen hohen Ziegeldächer glänzten in der Sonne wie knusprig. Schlank, einer versteinerten Pappel ähnlich, hob sich der Kirchturm aus der engbrüstigen Häuserversammlung, und um das Ganze zog sich wie eine appetitliche Verzierung ein schmaler Rand von Buschgrün, so daß die ovale Silhouette des Städtchens einem hübschen leckeren Tafelaufsatz glich, der dem deutschen Ankömmling bereitet stünde. Frisch ging er darauf zu, an einem altväterisch gemütlichen Fachwerkhause vorbei, das auf einem Bauerngehöft zwischen Bäumen und Kühen gemächlich dastand.
    In diesem Augenblick hörte er ein grobes Schelten und Rufen. Ein langer Mensch in rotgestreiftem Hemd kam durch eine Kornfurche gerannt, immerfort schrecklich mit den Armen herumfuchtelnd und Schimpfworte schreiend. Jetzt lief er quer über den Weg und verschwand jenseits in einer neuen Furche.
    »Françoise, Françoise, venez vite!« rief es ängstlich aus dem Feld.
    »Me voilà, Lucile!«
    Vom Feldwege her, der mit der Mülhauser Straße parallel lief, kam eilig ein Mädchen in blauem Kleide dem Scheltenden entgegen, ein blonder, glänzender Haarkorb stand ihr über dem Scheitel. Hummel konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ihr Gang hatte etwas Kräftiges, Zuversichtliches, das er schön fand. Zugleich bemerkte er im hohen Klee drüben einen großen Florentinerhut mit flatternden Bändern. »Françoise,« flehte es

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