Die Verborgene Schrift
Spindel-Ührchen und der zittrige Gesang – das alles war Deutschlands vergangene, gemütliche alte Zeit. Dort drüben fand man sie längst nicht mehr, aber hier im sich französisch glaubenden Elsaß hatte man sie unversehrt aufbewahrt. Die Erzählungen von Großeltern und Urgroßeltern waren es, die ihm hier wieder entgegentraten. Selber fühlte er allerlei Unruhe von sich abfallen, die ihn geplagt hatte, fühlte sicheinfach und still, erlöst von dem Gespannten und Aufgereizten drüben in dem ehrgeizig sich dehnenden Deutschland ...
Drinnen im Verkaufsraum hatte die Kundenglocke schon ein paarmal angeschlagen, worauf jedesmal ein tröstliches »Glich!« »tout de suite!« von seiten des Pharmacien folgte. Jetzt aber, da das Spieldöschen abgelaufen war, ging er gemächlich zu den Wartenden hinaus.
Tante Amélie erzählte inzwischen vom Kirchweihfest, der »Kilbe«, die morgen in Sulz gefeiert würde. Da müßte der neveu auf jeden Fall mithalten, halb Thurwiller ginge hin. Und wenn er lang genug hier bliebe, würde er auch noch die Prozession in der Kirche zu sehen bekommen, den Papst zu feiern, der ja nun unfehlbar würde. Ihr kleiner Enkel würde die Fahne tragen vor dem Herzen Jesu, und Françoise Balde, die Tochter des Herrn Maire, müsse noch immer als Sainte-Madeleine gehen, obgleich sie doch schon aus der Schule sei. »Sie hat das schönste Haar im Städtchen.« Das schönste Haar im Städtchen! Das klang wie aus einem Märchen! Und Françoise? Das war ja das blonde Mädchen aus dem Korn! Er erkundigte sich nun auch nach der anderen, der Zierlichen. Man erklärte sie ihm. Eine echte Pariserin sei das. O, man verstünde sich hier auf das, was pariserisch sei, man sähe es gern! Hummel machte ein sehr vergnügtes Gesicht. Françoise – Lucile. Und es schien ihm, als stehe da draußen in der grünen, monddurchhellten Dämmerung des Gärtchens ein ganzer Zug von schönen Frauen und Mädchen und warte auf ihn. Unruhig erhob er sich.
Im gleichen Augenblick kam Bourdon wütend zur Tür hereingeschossen. »Isch das recht? isch das chrischtlich?«
Er stellte sich breitbeinig vor dem jungen Mediziner auf, ihm ein Rezept hinhaltend. Der begriff nicht.
» Extrait de Quinquine, eau naturelle – – –? Das ist doch ganz einfach?«
» Ah oui, c'est clair! viel zu einfach isch's! Was soll ein armer pharmacien da dran verdienen? Warum net noch e wen'g vin d'Espagne oder so?«
Und nun machte er seinem Herzen Luft.
Jo, jo! Der Maire, das sei so einer! Früher seien die Kranken fast immer directement in die Pharmacie gekommen. Die Doktors hier von dazumal wären nicht beliebt gewesen. Der eine hätte allen Ehemännern seiner Patientinnen Hörner aufgesetzt, der andere sei immer betrunken gewesen und hätte sich dann auch richtig zu Tode gesoffen. Ja, da wären alle zu ihm, zum Pharmacien gekommen, und er hätte teure Medikamente geben können nach Herzenslust; seitdem aber dieser Doktor Martin Balde, der in Straßburg Medizin studiert hätte, sich hier niedergelassen – Er zog auf eine komisch weiche Art ein paarmal die Schultern zu den Ohren hinauf.
»Und er braucht's net emol,« fiel Madame ein. »Wo doch die Tochter emol d'r Sohn vom reiche Füeßli in Mülhuse heiraten wird.«
Von der andern Seite fing Camille wieder an.
Ja, verschreiben täte der Balde nur die allerbilligsten Arzneien. Und überhaupt sei es eine Schand', daß man einen Liberalen zum Maire gemacht habe. Noch dazu, wo seine Frau eine Fremde sei, eine Evangelische aus'm Frankrich, während sie selber, die Pharmacienne des »Bourdon d'or,« doch schon ihre Eltern und Großeltern hier in Thurwiller auf dem Kirchhof besuchen könne.
Hummel suchte zu trösten, so gut er konnte. Der Herr Onkel sei ja noch in seiner besten Kraft, überdies habe er sicher schon langst sein Schäflein ins trockne gebracht?
» Eh ça – je ne dis pas non! M'r will jo net klage! Un für d'Kinder isch gsorgt. Der fils , der sitzt emol weich im ›Bourdon d'or‹. Schad', daß er seinen deutschen Cousin nicht kennen lernt, aber er ist in Straßburg in der Lehre. Und meine Tochter Madame Schlotterbach« – er machte fast eine kleine Verbeugung – » vous savez , Schlotterbach et fils , die große usine hinter der Ill. Monsieur Théophile, mein Schwiegersohn – oh, il a de ça !« Er bewegte unsichtbare Geldstücke zwischen Daumen und Zeigefinger. »Sie haben nur zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Aber Madame Schlotterbach läßtVirginie, en attendant im
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