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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
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durch die Türritze, vom Hofe her hörte man Hühnergegacker und das Gebrumm von Kühen.
    Langsam und glockenmäßig schlug jetzt eine braune, hohe Stehuhr Sieben. Onkel Camille erhob sich, öffnete das Fenster, streckte den Arm aus und hielt, als er ihn zurückzog, eine Zeitung zwischen den Fingern. »Der ›Industriel alsacien‹ ,« erklärte er. »Sie halten ihn im Gasthause drüben, und der garçon von der ›Krone‹ bringt ihn mir jeden Abend 'nüber. Ich schröpf' ihn dafür umsonst.« Er setzte sich die runde Hornbrille auf und begann sich in die Familiennachrichten zu vertiefen und undeutlich zwischen seinen Zahnlücken vorzulesen. Wie Heinrich Hummel bemerkte, war das Blatt beidsprachig, immer eine Spalte deutsch, eine französisch. Der gute Camille las die lokalen Notizen deutsch, den offiziellen Aufruf des Präsidenten Isidor Salles aber, der die Mülhauser Bürgerzur Ruhe mahnte, las er mit erhobener Stimme französisch, jede vorletzte Silbe hart betonend. Dann las er weiter. Die Fabrikanten in Mülhausen hätten an die Regierung telegraphiert, sie möge Militär schicken gegen die »Arbeiter«. Der schlappe Mann schüttelte mißmutig den Kopf. »Militär, sell gfallt m'r net! Sell gibt bös Blut!« Er fuchtelte mit der langen blassen Hand durch die Luft. »Wir protegiere uns schon allein. Wir Elsässer, wenn m'r uns nur in Ruh laßt.« Dann, wie erschrocken über seine eigene Kühnheit, lenkte er wieder ein: »Nicht daß ich ein Raisonneur wäre, Dieu m'en garde ! Aber Militär – non, non, non , sell gfallt m'r net.«
    Tante Amélie aber glänzte vor Pläsier: »Militär? c'est vrai? all die hübschen jungen Leute! Oha, das wird e distraction gebe für die Maidle et les jeunes femmes .« Sie jauchzte förmlich, die Tassen auf ihrem Servierbrett zitterten.
    Nun hatte sie den Tisch abgeräumt; sie zog ein großes weißes Strickzeug vor und begann zu stricken, immer mit dem rechten Zeigefinger, fast fieberhaft, den Faden haschend. Onkel Camille zündete sich die Pfeife an. Heinrich mußte sich neben die Tante setzen und ein sonderbar geflammtes Wollgarn von der Fischbeinwinde abwickeln, die sie auf den großen runden Tisch gestellt hatte. Wie ein umgekehrtes Schirmgestell sah das aus. Auf jeder Spitze saß ein Püppchen in weißem Kleide und fuhr Karussell. »So hat es schon die Großmutter gehalten, und wir Kinder haben unsere helle Freud dran gehabt.«
    Hummel wickelte gehorsam sein Garn und sah zu, wie die Püppchen rundfuhren: zwei rote Kleidchen, zwei grüne und zwei blaue, dazwischen zwei Herren im Rokokokostüm, verstaubt und knitterig. Wahrscheinlich ältester Bestand der Garnwinden-Fahrgäste. Die Winde surrte. Wo hatte er das alles schon erlebt? Wo nur?
    Tante Amélie erzählte ihren Tageslauf.
    O, sie stand sehr früh auf, schon um fünf Uhr, denn dann mußten die Milchkannen nach Bollwiller gefahren werden. Sie besaß mehrere Anwesen vor dem Städtchen, Häuser, Kuhställe und ein wenig Landwirtschaft. Was im Hause nichtverbraucht wurde, verkaufte sie in Bollwiller. Um sieben Uhr löffelt man ein Schüssele Suppe oder Milchkaffee, dann geht's in die Messe. Zwischen Neun und Zehn das Morgenessen, danach ruht man ein Stündchen. Um zwölf Uhr gibt's Mittag, um vier Uhr Vesper, dann um Sieben die Abendsuppe.
    Zufrieden sah sie mit dunkeln Augen um sich, und ihr üppiger Körper dehnte sich förmlich in Erinnerung all der guten Dinge, die man ihm täglich so liebevoll zuführte.
    Inzwischen war auch Onkel Camille mit seiner Zeitung fertiggeworden. Mit der Miene eines Mannes, der eine köstliche Überraschung anzubieten hat, stand er auf, ging zur Kommode und zog, zu Ehren des Gastes, ein Spieldöschen auf, das dort stand. Während aus dem Holzkästchen eine sachte Melodie hervorächzte, sang der Alte dazu mit einer überraschend dünnen näselnden Stimme:
    »Mich fliehen alle Freuden,
ich sterb' vor Ungeduld,
an allen meinen Leiden
ist nur die Liebe schuld.«
    Und dann noch einmal scherzhaft die Worte versetzend: »Mich freuen alle Fliegen, ich sterb' vor Ungeduld.« Danach lachte er dünn und anhaltend, die Katze schnurrte, der Kaffee dampfte.
    Und auf einmal wußte Hummel, warum ihm alles das so urbekannt vorkam. Dieser Mann hier vor ihm mit seiner Pfeife, in Hausmütze und Pantoffeln; das hausfraulich unermüdliche Ab- und Zugehen der Tante, die alten tiefen Sessel, gestickten Kissen und Rollen, gebauchten Kommoden, Glasservanten und mit Andenken bestandenen Zierbrettchen, das

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