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Die verborgene Seite des Mondes

Die verborgene Seite des Mondes

Titel: Die verborgene Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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Tag, taten, was getan werden muss te, als wäre alles in bester Ordnung. Ada war oft unterwegs. In Städten wie New York, San Francisco oder Washington sprach sie vor den Menschen über die Ungerechtigkeit, die ihrem Volk widerfuhr, seit die Weißen ins Land gekommen waren.
    War die alte Frau zu Hause auf der Ranch, kümmerte sie sich um den Jungen, ihren Gemüsegarten, den Haushalt. Simon und Boyd versorgten die Tiere, füllten den Holzvorrat hinter dem Haus auf oder reparierten irgendwelche Fahrzeuge und Maschinen. Fast täg lich fuhr der alte Mann mit dem Fourwheeler, einer Art vierrädri gem Motorrad, die Zäune der Ranch ab und besserte Schadstellen aus. Simon half ihm dabei, er mochte diese Arbeit. Sie war nicht schwer und er wusste auch ohne Worte, was zu tun war.
    Als Simon an diesem sonnigen Vormittag mit Boyd den Holzzaun flickte, sah er Tränen über die dunklen Wangen des alten Mannes rollen.
    Die Tränen machten Boyd blind und er schlug mit dem Hammer ins Leere. Simon zog sich der Magen zusammen, als eine unbe stimmte Angst sich in ihm ausbreitete. Er legte Boyd eine Hand auf den Arm. Einen Augenblick verharrten sie so, reglos im Schweigen. Dann wischte sich der alte Mann mit den Hemdsärmeln über das nasse Gesicht, klopfte Simon auf die Schulter und arbeitete weiter.
    Es war Abend, bevor Simon endlich erfuhr, was geschehen war. John, der einzige Sohn der beiden, war in Deutschland bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Er hinterließ seine deutsche Frau und eine Tochter. Julia. Im Wohnzimmer des Ranchhauses hing ein Foto von ihr und ihrem Vater. Simon hatte schon oft davorgestan den. Julia war ein pummeliges Mädchen mit einer Zahnspange. Das hatte sie nicht davon abgehalten, dem Fotografen ein strahlendes Lächeln zu schenken.
    Simon wusste, dass die beiden Alten noch eine Tochter hatten, die in Alaska lebte. Sie hieß Sarah und war Tommys Mutter. Seit Simon für Ada und Boyd arbeitete, hatte sie sich nicht ein einziges Mal auf der Ranch blicken lassen. Niemand kam, um den beiden Alten zu helfen. Beide Kinder hatten es vorgezogen, diesen Ort so weit wie nur möglich hinter sich zu lassen. Jason, Johns Sohn aus erster Ehe, lebte zwar mit seiner Mutter in Eldora Valley, nur zwanzig Kilometer von der Ranch entfernt, aber sein Interesse an körperlicher Arbeit hielt sich in Grenzen. Lieber fuhr er den ganzen Tag mit seinem aufgemotzten Zweisitzer herum. Auch deshalb war Ada so verbittert. Und nun war der einzige Sohn der beiden, ihre große Hoffnung, tot.
    Simon spürte mit seinem ganzen Körper, dass sich etwas verän dern würde. Er wusste nicht was, aber es machte ihm Angst.
    Die vier Tage bis zur Beerdigung verbrachte Julia in einer Art Däm merzustand. Geräusche drangen nur gedämpft zu ihr. Die Umge bung kam ihr fremd vor und sie bewegte sich wie in einem Wattene bel.
    Julia aß kaum; was sie auch anrührte, es schmeckte nach nichts. Sie sprach nur das Nötigste, denn Worte zu formen, glich einem Kraftakt. Genauso wie Zähne putzen, kämmen und anziehen. Wer sollte jetzt ihren Zopf flechten? Ihr Vater hatte das gern getan, wäh rend Hanna der Meinung war, sie sei zu alt dafür und könne es selbst.
    Nachts weinte Julia lautlos und schlief am Morgen vor Erschöp fung ein. Ihre Freundin Ella kam und wollte sie ablenken, indem sie einen verrückten Vorschlag nach dem anderen machte. Aber Julia nahm sie gar nicht richtig wahr. Als Ella es ein zweites Mal versuch te, bat Julia ihre Mutter, die Freundin wegzuschicken. Sie wollte nicht, dass jemand sie so sah, nicht einmal Ella. Sie fühlte sich wund und dunkel und müde. Ohne Haut .
    Die Beerdigung ihres Vaters erlebte Julia wie hinter Glas. Als ob das alles nichts mit ihr zu tun hätte. Als ob nicht John Temoke in die Erde versenkt würde, sondern irgendein Fremder.
    So vieles war mit ihrem Vater gestorben. Ihr Mut, ihre Zuversicht und ein Teil ihres Selbstvertrauens, das er ihr mit seiner Liebe ge schenkt hatte. Ihre Unbeschwertheit und die Möglichkeit sich je mandem anzuvertrauen, der so war wie sie. Nun hatte sie keine Chance mehr, von ihrem Vater etwas über die indianische Hälfte in ihr zu erfahren. Sie hatte nicht nur ihn verloren, sondern auch einen Teil von sich.
    Am Tag nach der Beerdigung rief ihre Mutter sie zu sich ins Wohn zimmer. Hanna saß auf der Couch, das Gesicht rot und verquollen. In den Händen zerknüllte sie ein Taschentuch.
    Seit dem Tod des Vaters fühlte Julia sich außerstande, ihre Mutter zu umarmen. Wenn die Eltern

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