Die verborgene Seite des Mondes
Längstäler und Ortschaften, die so merkwürdige Namen wie Winnemucca oder Battle Mountain trugen. Das nördliche Nevada war ein ungastlicher Landstrich – und doch auf spröde Weise schön. Jedenfalls in Julias Augen.
Hanna hatte die Entscheidung ihrer Tochter, nach Nevada zu flie gen und der Zeremonie beizuwohnen, ohne Widerspruch akzep tiert. Julia wusste, dass es ihre Mutter große Überwindung gekostet haben musste. Doch sie würden nicht lange bleiben. Nach dem Wo chenende wollten sie zu Hannas Freundin Kate nach San Francisco weiterreisen, um dort drei Wochen Urlaub zu verbringen.
»Wir brauchen Abstand«, hatte ihre Mutter gesagt. »Urlaub wird uns guttun.«
Aber Julia wusste, dass kein Abstand dieser Welt etwas an ihrem Schmerz ändern würde. Ganz im Gegenteil. Im Kokon ihrer Trauer fühlte sie sich geborgen. Und wenn sie erst auf der Ranch waren, würde endlich jemand da sein, mit dem sie ihren tiefen Kummer tei len konnte.
Sie waren in Frankfurt gestartet, mit Zwischenlandung in Atlanta. Und obwohl Julia ihren Vater in Deutschland in seinem dunklen Grab zurückgelassen hatte, kam es ihr so vor, als würde sie ihm ent gegenfliegen. Tief in ihrem Innersten erwachte etwas, das in den vergangenen Jahren geschlafen hatte. Es waren die Stimmen ihrer Ahnen. Julia wollte wissen, was das bedeutete: Indianerin zu sein. Die Vorfahren ihres Vaters waren Sammler und Jäger gewesen. Ihr
Lebensraum, das Große Becken, erstreckte sich von den Gebirgszü gen der Sierra Nevada über die Kaskaden Kaliforniens und Oregons im Westen bis zu den Rocky Mountains im Osten. Becken deshalb, weil die Flüsse in diesem Gebiet den Ozean nicht erreichen, son dern sich im Wüstensand verlieren. Newe Sogobia , wie die Shoshoni ihr Land nennen, ist eines der dürrsten und heißesten Gebiete Nordamerikas.
Früher waren die Shoshoni in kleinen Familiengruppen durchs Land gezogen. John hatte Julia erzählt, dass sie große und schlanke Leute waren, scheu, aber von fröhlichem Wesen. Sie hatten sich von Wildpflanzen, Samen und Wurzeln ernährt, hatten Piniennüsse ge erntet und Kleintiere gejagt. Die Frauen waren unterwegs pausen los mit ihren Grabestöcken auf Nahrungssuche gewesen, weshalb die Shoshoni von den Weißen auch verächtlich Diggers genannt wurden – Wühler .
Die Erinnerung an die Gespräche mit ihrem Vater kam mit einem so wilden Schmerz daher, dass Julia tief durchatmen musste, um nicht laut aufzustöhnen. In diesem Augenblick hätte sie gerne ge wusst, wie lange es dauern würde, bis es nicht mehr so wehtat.
Unterdessen tauchten am fernen Horizont schneebedeckte Berge auf.
»Die Ruby Mountains«, sagte Hanna und zeigte durch die Wind schutzscheibe des Mietwagens nach vorn. »Dort ist der Vertrag von Ruby Valley unterzeichnet worden.«
Julia musste daran denken, was ihr Vater über den Vertrag von Ru-by Valley erzählt hatte, der von der US-Regierung im Jahr 1863 mit den Shoshoni geschlossen worden war. Man hatte den Indianern Schutz vor den Übergriffen weißer Siedler zugesichert und im Ge genzug bekam die US-Regierung das Recht zugesprochen, Bergbau siedlungen zu errichten und Bodenschätze abzubauen.
Alles veränderte sich. Eine Eisenbahnlinie durchzog das Land, Poststationen und Telegrafenleitungen wurden errichtet. John hat te Julia erklärt, dass mit diesem Vertrag kein Land verkauft, sondern ausschließlich Nutzungsrechte erteilt worden waren. Doch hundert Jahre später hatten die Weißen den Vertrag einfach gebrochen und das Land an sich gerissen.
Julia atmete tief durch. Warum hatte er ihr damals nicht die ganze Wahrheit erzählt? Was es mit diesem Vertragsbruch wirklich auf sich hatte; was er heute bedeutete? Warum war es ausgerechnet ih re Mutter gewesen, die ihr vom BML erzählen musste, von den be waffneten Bundespolizisten und von dem riesigen Schuldenberg, auf dem ihre Großeltern angeblich saßen?
Hanna bog vom Highway auf eine kaum befahrene Landstraße ab. Nach knapp zwanzig Kilometern, die sie durch baumloses Grasland fuhren, erreichten sie schließlich Eldora Valley, eine Siedlung, die größtenteils aus gesichtslosen Billighäusern und kastenförmigen Wohntrailern bestand.
»Das ist der letzte Ort vor der Ranch«, sagte Hanna. »Danach kommt nur noch Wüste.«
Julia erfuhr, dass die Bewohner des Ortes vorwiegend Minenarbei ter waren, die in der nahen Columbus-Goldmine arbeiteten. Eldora Valley hatte ein Postamt, einen Lebensmittelladen, ein modernes Schulgebäude mit grünem Blechdach,
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