Die verborgene Seite des Mondes
das Gesicht mit den Händen, als hätte sie Schmerzen. »Ich habe furchtbar unter der Ablehnung deiner Großmutter gelitten. Ada ist voller Bitterkeit und Groll. Sie ist der Überzeugung, alle Weißen wären Außerirdische. Sie meint, irgendwann vor langer Zeit wären unsere Vorfahren von einem anderen Planeten auf die Erde gekommen und dort vergessen worden. Deshalb würden wir auch keine Verantwortung für Mutter Erde empfinden. Weil sie nicht unsere wahre Heimat ist. An Adas Einstellung hat sich bis heute nichts geändert und ich fürchte, sie ist nicht besonders glücklich darüber, mich wiederzusehen.«
Julia machte ein paar Schritte auf ihre Mutter zu. »Aber um dich geht es hier doch gar nicht.«
Hanna blickte auf. »Ich habe Angst, Julia.«
»Angst wovor? Vor zwei alten Leuten?«
»Vor dem Krieg, den sie führen.«
»Welchen Krieg?«, fragte Julia mit gerunzelter Stirn.
Ihre Mutter stand auf und ging zum Fenster. »Du weißt, wie enga giert deine Großeltern sind. Sie setzen sich für den Umweltschutz ein, sie demonstrieren gegen die Goldmine auf dem Land der Sho shoni, gegen Waffentests.« Sie drehte sich um. »Aber dein Vater hat dir nie erzählt, was das in Wahrheit bedeutet, oder?«
Julia schüttelte stumm den Kopf.
Ihre Mutter begann im Zimmer auf und ab zu laufen. »Er hat dir die alten Geschichten über sein Volk erzählt; über die Schönheit des Landes und die Bedeutung der traditionellen Bräuche. Und bestimmt hat er dir auch von den alten Verträgen erzählt, in denen die Shoshoni der US-Regierung die Nutzungsrechte ihres Landes eingeräumt haben. Aber dass die US-Regierung diesen Vertrag gebrochen hat und was diese Tatsache heute bedeutet, darüber weißt du nichts.« Hanna machte eine resignierte Geste. »Deine Großeltern weigern sich, Weidegebühren zu zahlen, weil dieses Land nach dem Vertrag von Ruby Valley immer noch Western-Shoshone-Land ist. Also erscheinen alle paar Jahre Vertreter des Bureau of Land Management mit LKWs und Hubschraubern auf der Ranch. Eskortiert von Sheriffs und der Bundespolizei fangen sie Pferde und Rinder ein, die zur Ranch deiner Großeltern gehören. Ohne Rücksicht auf Verluste jagt das BLM die Tiere, fängt sie ein und versteigert sie. Das Geld wird einbehalten.«
»Aber das ist Diebstahl«, sagte Julia aufgebracht. »Du hast gesagt, die Tiere gehören zur Ranch.«
Hanna hob die Schultern. »Zur Schuldentilgung, behauptet das BLM. Deine Großeltern haben Schulden, Julia. Nicht gezahlte Wei degebühren für mehr als dreißig Jahre, weil die Tiere angeblich un berechtigt auf Staatsland weiden. Benzinkosten für Hubschrauber, Behördenfahrzeuge, Arbeitslohn für die Männer, die das Vieh ein treiben . . . Ich glaube, inzwischen sind es fünf Millionen Dollar.«
Fünf Millionen Dollar. »Aber . . .?« Julia schwieg erschüttert.
»Warum dein Vater dir das nie erzählt hat? Er wollte nicht, dass du ihn für jemanden hältst, der seine Familie im Stich lässt. Deinen Großeltern steht das Wasser bis zum Hals, Julia. Sie schaffen es nicht mehr alleine, die Ranch zu bewirtschaften. Die Familie ist zer stritten und deine Großmutter misstraut jedem Fremden, der Hilfe anbietet. Ada und Boyd hatten gehofft, dein Vater würde eines Ta ges die Ranch übernehmen, stattdessen ist er mit mir fortgegangen. Während sie um ihre Existenz kämpften, hat er Landschaftsbilder gemalt. In ihren Augen war dein Vater ein Versager.«
Julia sah weg. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten.
Warum hatte ihr Vater ihr all diese Dinge verschwiegen? Warum war er nicht hier, um ihre Fragen zu beantworten?
»Er war ein Versager, weil er sich entschieden hatte, mit uns in Deutschland zu leben?«, flüsterte sie schließlich.
Hanna gab keine Antwort, sie weinte lautlos.
Julia spürte, wie ihr schwindelig wurde. Sie atmete heftig, um die Übelkeit zu vertreiben, die dunklen Wellen aus Trauer, Angst und Enttäuschung.
Tief verletzt und verwirrt stand sie auf, um aus diesem Raum zu fliehen, der ihr die Luft zum Atmen nahm.
»Julia?«
Sie blieb in der Tür stehen, wandte sich um und sah ihre Mutter fragend an.
»Auch wenn du mir das jetzt vielleicht nicht glaubst«, sagte Hanna. »Aber ich habe deinen Vater sehr lieb gehabt.«
2.
D er Highway 80 war ein endloses graues Band, das sich durch gras-bedeckte Ebenen und sanfte Hügel zog. Bäume gab es kaum. Julia konnte ihren Blick nicht von der Landschaft lösen. Schon seit einer ganzen Weile durchfuhren sie breite
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