Die verborgene Seite des Mondes
war ganz wirklich und die zurückliegenden Stunden waren nur ein böser Traum.
An den weißen Wänden der Dachkammer hingen und standen die Gemälde ihres Vaters. Er hatte nie Menschen oder Gesichter ge malt, nur Landschaften, die Landschaften seiner Sehnsucht. Olivgrü ne kahle Hügel, Pappeln, dunkelgrün im Sommer und golden im Herbst. Und immer wieder das weiße Ranchhaus mit der blauen Tür und den blauen Fensterrahmen. Er hatte es aus verschiedenen Per spektiven gemalt und in vielen Variationen.
In Julias Vorstellung hatten dieses Haus und seine Umgebung et was Geheimnisvolles. Es war die Ranch ihrer indianischen Großel tern. Doch weder die Ranch noch ihre indianischen Verwandten hatte Julia jemals kennengelernt.
Ach Pa , dachte sie , warum hast du mich nie mitgenommen?
Diese Frage hatte sie ihrem Vater zuletzt vor drei Jahren gestellt und wie immer eine ausweichende Antwort bekommen. Dass seine Mutter Ada stur sei und weder Hanna noch ihre Enkeltochter sehen wolle. »Es ist meine Schuld, Julia. Eigentlich ist sie auf mich böse.«
Julia war gekränkt gewesen und hatte aus Trotz nicht weiter nach gefragt. Der Vater hatte aufgehört, ihr von der Ranch und seinen Bergen zu erzählen, und Julia hatte versucht, nicht mehr daran zu denken.
Inzwischen hatte sie sich alle Bilder angesehen, nur eines war noch übrig. Zögernd ging sie zur Staffelei, die mit einem Tuch ver hängt war. Ihr Vater hatte schon einige Zeit an diesem Bild gearbei tet und ein Geheimnis darum gemacht. Vielleicht hatte es ein Ge schenk für sie werden sollen. Mit zitternden Händen zog Julia das Tuch von der Staffelei.
Ein unfertiges Porträt kam darunter zum Vorschein. Schräge Au gen mit einem neugierigen Blick. Geschwungene Lippen, die noch keine Farbe bekommen hatten. Das spitze Kinn. Ein dicker Zopf, nur angedeutet. Ihr Vater hatte sie gemalt. Er, der sich mit dem Pin sel nie an Gesichter gewagt hatte.
Julia setzte sich auf den Boden, lehnte den Kopf zurück an die Wand und betrachtete das Bild. Das Wesentliche hatte ihr Vater ein gefangen, aber sie fragte sich, ob sie das wirklich war. Hatte er sie so gesehen? Wer war sie überhaupt? Sie fühlte sich genauso unfer tig, wie dieses Porträt es war. Ihr Vater hatte sie unfertig zurückge lassen. Was sollte sie jetzt nur tun?
Ihr Blick trübte sich, die Farben des Bildes verschwammen und sie holte tief Luft. Es klopfte an der Tür.
»Julia, bist du da drin?«
Sie antwortete nicht. Ganz langsam glitt sie zur Seite und legte sich auf den Boden. Ich bin nirgendwo , dachte Julia.
Etwas hatte sich ereignet, das spürte Simon sofort. Ada redete kaum während des gemeinsamen Frühstücks. Stumm fütterte sie den Jungen. Auch Boyd sagte kein Wort. Beide schienen über Nacht um Jahre gealtert zu sein.
Tommy schrie. Er biss sich in die Unterarme, bis es blutete, und seine Granny schimpfte deswegen mit ihm. Das tat Ada nur selten. Irgendetwas musste passiert sein. Als Simon am vergangenen Abend das Ranchhaus verlassen hatte, um in seinen Wohnwagen zu gehen, war alles wie immer gewesen. Aber er wusste nur zu gut, dass Dinge sich auch über Nacht ändern konnten.
Simon spürte die Trauer der beiden alten Menschen, die sich wie eine dunkle, schwere Decke über die Ranch gelegt hatte. Dass er keine Ahnung hatte, was los war, verunsicherte ihn. Wie schnell konnte man etwas falsch machen; wie schnell jemanden verletzen, wenn er schon verwundet war. Das hatte er oft genug am eigenen Leib zu spüren bekommen.
Doch er wagte es nicht, einen der beiden Alten nach dem Grund zu fragen. Er hatte Angst, dass etwas geschehen war, das sein Leben verändern könnte.
Ada kümmerte sich um den Abwasch, wie jeden Vormittag. Si mon schraubte den Sauger auf die Flasche für das Kälbchen und begab sich auf den Weg zur Koppel. Pepper, sein junger Misch lingshund, folgte ihm. Simon ließ Pipsqueak trinken und schmuste eine Weile mit dem winzigen Kälbchen. Dann schleppte er vier der schweren Heuballen vom Stapel zum Zaun, kappte die Verschnü rung mit einem Messer und verteilte das Heu mit der Heugabel an die Kühe.
Dreizehn Jungtiere waren es. Nur dreizehn . Viel zu wenig, um den Bestand zu erhalten. Draußen auf der umzäunten Weidefläche der Ranch standen noch fünfundsiebzig Kühe – zu wenig, um zwei oder drei davon für Lebensmittel und Benzin zu verkaufen. Zu wenig, um über den nächsten Winter zu kommen.
Die beiden Alten wussten nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Und doch schufteten sie jeden
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