Die verborgene Stadt - Die Prophezeiung
die Konturen der Nachbarn zunächst, doch dann wurden sie auf einmal wieder scharf, und Artjom wäre vor Schreck beinahe vom Stuhl gekippt: Die Männer hatten plötzlich vier Arme – jeder von ihnen, wohlgemerkt! Das untere Armpaar entsprang unterhalb der Achseln und wurde genauso aktiv eingesetzt wie das obere. Als einer der Vierarmigen das Monokel bemerkte, lächelte er und winkte Artjom mit der linken, unteren Hand freundlich zu. Die angenehm betäubende Wirkung des Alkohols war mit einem Schlag verflogen.
»Was ist das?«, fragte Artjom, als er Cortes das Monokel zurückgab.
»Ein Magoskop .« Cortes polierte das Glas liebevoll mit einem weichen Tuch und steckte es wieder in die Tasche.
»Damit kannst du sehen, was sich hinter einem Trugbild verbirgt.«
»Und die beiden da?«
»Das sind Chwanen, wie Jana schon sagte, ganz umgängliche Kerle, die aber lieber unerkannt bleiben und sich deshalb fast immer mit einem Trugbild tarnen. Die Chwanen sind ein Vasallenvolk des Herrscherhauses Tschud.«
Artjom atmete tief durch. Die Kristallkaraffe mit dem Wodka zog ihn beinahe magisch an, doch er beschloss, diese heftige Erschütterung seines Weltbildes nüchtern durchzustehen. »Woher weißt du, dass dein Nachbar nicht zwei Herzen hat?« Lusjas damalige Frage erwies sich als sehr berechtigt.
»Glaubst du uns jetzt?«, fragte Cortes.
»Das schon. Aber warum muss ich das eigentlich alles wissen? Ursprünglich sollte ich doch nur dieses – Dings – Amulett übergeben, nichts weiter.«
»Allerdings«, warf Jana ein und schaute Cortes fragend an. »Wieso hat man ihm eigentlich von der Verborgenen Stadt erzählt?«
»Ich nehme an, dass Santiago ihn an den TKV angeschlossen hat. Offenbar hat er beschlossen, ihn anstelle von uns zu benutzen.«
»Wieso anstelle von uns?«, entrüstete sich Jana.
»Wieso benutzen?«, entrüstete sich Artjom.
»Immer schön ruhig bleiben«, beschwichtigte Cortes mit erhobenen Händen. »Jana, ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich nicht ganz ehrlich zu dir war?«
»Sprich dich nur aus.« Den Blick, mit dem die junge
Frau den Söldner bei diesen Worten bedachte, hätte man fotografieren müssen.
»Das Ziel unserer Operation war nicht das Amulett, sondern der Bote. Der Dunkle Hof möchte ihn unschädlich machen, noch bevor er bei Vollmond das Maximum seiner magischen Kraft erreicht. Indem wir den Rothauben die Beute abjagen, sollten Lebed und ich zum Köder für ihn werden. Der Bote jagt uns und Santiago den Boten – so war es geplant. Du warst nur im Hintergrund aktiv und keinem direkten Risiko ausgesetzt. Deshalb habe ich dir nur vom ersten Teil des Plans erzählt. Leider ist die Sache nicht so gelaufen, wie wir uns das vorgestellt hatten. Lebed wurde getötet, ich verwundet und Artjom ist ins Spiel gekommen, ein Humo, der mit der Sache ursprünglich überhaupt nichts zu tun hatte. Der Bote hat den Köder mitsamt dem Haken verschluckt, und die Rothauben sind jetzt hinter Artjom her.«
Das war eine schlechte Nachricht. Eine sehr schlechte sogar. Artjom schielte wieder zur Wodka-Karaffe.
»Und wenn ich mich weigere, mitzumachen?«
Die Söldner zeigten sich unbeeindruckt und schwiegen.
»Ich habe keine Lust, mich als Köder missbrauchen zu lassen!«, explodierte Artjom. »Das mache ich nicht, und damit basta!!«
Artjom war so laut geworden, dass die Chwanen am Nebentisch sich neugierig nach ihm umdrehten.
»Ich fürchte, du kommst aus der Sache nicht mehr heraus, Artjom«, sagte Cortes. »Und es wäre auch gar
nicht in deinem Sinne. Im Augenblick stehst du unter dem Schutz der Nawen, wenn du jetzt aussteigst, unterschreibst du dein eigenes Todesurteil. Die Rothauben würden kein langes Federlesen mit dir machen.«
»Wenn alles vorüber ist, würde ich an deiner Stelle den Dunklen Hof zur Kasse bitten«, empfahl Jana. »Der bezahlt gutes Geld für solche Jobs.«
»Ein sauberer Job«, versetzte Artjom aufgebracht. »Mein Leben ist in Gefahr.«
»Dann verlangst du eben einen Risikozuschlag.«
»Macht das viel aus?« Artjom verfügte über einen ausgeprägten Geschäftssinn.
»Zuerst musst du mal am Leben bleiben«, bremste ihn die junge Frau.
»Werdet ihr mir dabei helfen?«
»Wir sind schon dabei.«
»Wie schön, wenn man von Freunden umgeben ist«, sagte Artjom mit einem Anflug von Ironie. »Und was machen wir jetzt?«
»Santiago möchte mit dir sprechen und das weitere Vorgehen koordinieren«, verkündete Cortes. »Er wird sich schon bald hier einfinden.«
»Gut, dann
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