Die verborgene Stadt - Die Prophezeiung
Tür öffnete sich. Vorsichtig betrat er den Raum.
»Entschuldigen Sie, dass ich unangemeldet komme«, sagte eine zurückhaltende Stimme. »Doch ich müsste Sie dringend sprechen.«
In Kornilows Chefsessel lümmelte ein ziemlich schnöselig wirkender, akkurat gekämmter junger Mann von etwa dreißig Jahren, der in einem piekfeinen, hellen Anzug steckte und seine teuer beschuhten Füße ungeniert auf dem Schreibtisch des Majors platziert hatte.
»Ich hoffe, Sie sind nicht zu beschäftigt?«, flötete der Snob und sah den Polizisten erwartungsvoll an.
»Nein«, erwiderte Kornilow überrumpelt.
»Ich werde Ihre kostbare Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen«, versprach der ungebetene Gast lächelnd. »Übrigens habe ich mir erlaubt, ein wenig zu lüften. Ich kann Zigarettenqualm nicht ausstehen.«
Trotz des geschlossenen Fensters war die Luft im Raum bemerkenswert frisch. Kornilow warf einen Blick auf den Ventilator, der vor einem halben Jahr während einer Vernehmung kaputtgegangen war, doch der alte Kasten gab kein Lebenszeichen von sich.
»Nein nein, ich habe ihr Gerät nicht repariert«, bedauerte der Snob, der offenbar auch Gedanken lesen konnte.
Ein rotbraunes Fellknäuel huschte zwischen Kornilows Füßen hindurch und sprang auf den Tisch.
Das Eichhörnchen.
Es trippelte zu dem feinen Pinkel und zupfte ihn ungeduldig am Ärmel seines Sakkos.
»Du kleiner Vielfraß«, sagte der Gast mit zärtlichem Vorwurf, zog eine Walnuss aus der Tasche und warf sie in die Luft. »Fang!«
Das Eichhörnchen erhaschte die Beute geschickt mit den Pfötchen und machte sich gierig daran, die Schale aufzunagen.
»Es liebt Nüsse«, berichtete der Fremde, während die ersten Schalenstückchen auf den Schreibtisch bröselten. »Mein Name ist Santiago.«
»Kornilow«, antwortete der Major heiser. »Major Kornilow. «
»Sehr erfreut«, nickte Santiago verbindlich. »Setzen Sie sich doch, Herr Major.«
Der Gast ließ sich dazu herab, die Füße vom Tisch zu nehmen, seine unangemessen lässige Haltung behielt er jedoch bei. Etwas widerstrebend nahm Kornilow auf einem Stuhl Platz.
»Sie kommen wegen der Schießereien?«, erkundigte er sich.
»Sie haben es erraten«, bestätigte Santiago. »Und da wir nun schon zur Sache gekommen sind, möchte ich gleich darauf hinweisen, dass ihre Theorie, in Moskau
hätte sich eine neue kriminelle Gruppierung eingenistet, leider falsch ist.«
»Was Sie nicht sagen?!«, wunderte sich der Major und zog eine Zigarette aus der Schachtel.
»Dürfte ich Sie bitten, nicht zu rauchen?«, intervenierte Santiago. »Ich kann Tabakqualm nicht ausstehen. «
»Das hatten Sie bereits erwähnt«, grummelte Kornilow und betätigte das Zündrad seines Feuerzeugs.
Es entstand kein Funken. Nach einigen weiteren Fehlversuchen sah er seinen Gast argwöhnisch an. Das Feuerzeug war nagelneu und konnte unmöglich kaputt sein.
»Bitte«, insistierte Santiago.
Widerwillig steckte der Major die Zigarette zurück in die Schachtel.
»Verbindlichsten Dank.«
»Wo haben Sie die ganzen Leute versteckt?«, erkundigte sich Kornilow.
»Es wäre wohl korrekter zu fragen, wo ich uns versteckt habe«, entgegnete der Gast. »Aber es würde zu lange dauern, Ihnen das zu erklären. Ich bin in Eile.«
»Sind Sie ein Außerirdischer?«, fragte der Major ohne Umschweife.
In diesen Dingen kannte er sich ein bisschen aus. Seine erste Frau war eine passionierte Science-Fiction-Leserin und hatte ihn genötigt, den Roman »Krieg der Welten« zu lesen. Dieses Wissen konnte ihm nun zugutekommen.
»Nein. Ich bin ein Erdling«, versicherte Santiago. »Genauer
gesagt ein Angehöriger des Dunklen Hofs, der etwa hunderttausend Jahre vor dem Erscheinen des Homo sapiens gegründet wurde. Unser derzeitiger Siedlungsraum ist die Verborgene Stadt, die noch viel älter ist und von unseren Vorgängern gegründet wurde. Ihr Menschen nennt diesen Ort Moskau.«
»Ich wohne schon in Moskau, seit ich denken kann, aber von einem Dunklen Hof habe ich noch nie etwas gehört.«
»Die Verborgene Stadt legt keinen gesteigerten Wert auf Publicity. Wir leben einfach unser Leben und sind bemüht, uns nicht in eure Angelegenheiten einzumischen. «
»Seid ihr viele?«
»Nein, nur ein versprengtes Häuflein«, seufzte Santiago. »Zum Glück werden wir ziemlich alt. Die Verborgene Stadt beherbergt die kläglichen Reste einst großer Zivilisationen.«
»Womit beschäftigt ihr euch?«
»Wir arbeiten, treiben Handel, besuchen eure Kinos, Parks und
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