Die verborgene Stadt - Die Prophezeiung
sich an unbelebten Objekten, was für einen Zauberer aus dem Herrscherhaus Lud zu den schwierigsten Übungen
gehörte. Nachdem er den Grünen Hof verlassen hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich autodidaktisch weiterzubilden und die nötigen Fertigkeiten in mühsamer Kleinarbeit zu erwerben. Kein anderer, von seinem Volk verstoßener Zauberer wäre in der Lage gewesen, sein Potenzial auf sich alleine gestellt auszuschöpfen, doch Lubomir war auf dem besten Wege dazu. Mit eiserner Disziplin arbeitete er an sich und wurde von Tag zu Tag stärker. Seine Triebfeder war der Hass! Lubomir wurde nicht schlau aus Wseslawas Intrigengeflecht, und so richteten sich seine Rachepläne gegen alle: gegen den Grünen Hof, der ihn verstoßen hatte, gegen die Priesterinnen, die ihn verraten hatten und schließlich gegen Wseslawa selbst, gegen die Frau, die er liebte und die sich seinen Tod wünschte.
Gesteuert von Lubomirs Blick schwebte eine Marmorkugel langsam über das Wasser. Der Zauberer hatte sie bereits dazu gebracht, Kreise zu ziehen, meterhoch in die Lüfte zu steigen und ins Wasser einzutauchen, und nun bereitete er sich auf das schwierigste Kunststück vor. Er ließ die Kugel reglos in der Luft schweben, entspannte sich für einen Moment und rieb sich die Schläfen, als ihn plötzlich ein leises Motorengeräusch in seiner Konzentration störte.
Ungehalten sah sich Lubomir um. Nicht weit von ihm entfernt hatte eine große, blitzblank polierte Limousine am Ufer geparkt. Der Zauberer verzog das Gesicht. Er wusste, zu welchem Zweck derlei Schlitten über holperige Schotterpisten in diesen gottverlassenen Winkel des Waldes vordrangen. Vor langer Zeit hatte er sich einmal
heimlich – unsichtbar durch einen einfachen Zauber – einem solchen Gefährt genähert und lange beobachtet, welch barbarischem Treiben die Insassen auf der Rückbank frönten. Was er damals zu sehen bekam, gefiel dem Zauberer überhaupt nicht. Die verschwitzten nackten Körper und die animalische Lust der Humos ekelten Lubomir an. An jenem Tag war ihm klargeworden, wofür Wseslawa seine reine, idealistische Liebe weggeworfen hatte, und bedauerte es zutiefst, dass es ihm nicht gelungen war, den Baron Metscheslaw zu töten. Und die Königin dazu …
Lubomir vergaß die Ankömmlinge und konzentrierte sich wieder auf seine Kugel. Seine magische Energie ließ die Konturen des Marmormonoliths erzittern und allmählich verschwimmen. Die Augen des Boten verwandelten sich in tiefe dunkelgrüne Brunnen. Er ballte die Fäuste und biss die Zähne zusammen. Langsam zerfiel die Kugel in acht gleichmäßig große Teile, die sich ihrerseits wieder zu Kugeln formten. Berauscht von seinem Erfolg sprang Lubomir auf und reckte seine dünnen Arme empor: Er hatte es geschafft! Nun tanzten acht kleine Marmorkugeln lustig über dem Fluss.
Lubomir stieß einen kurzen, heiseren Jubelschrei aus. Wieder hatte er einen kleinen Schritt getan auf dem Weg zur Entfaltung seiner Macht. Schon bald würde man in der Verborgenen Stadt vor ihm zittern und seinen Racheplänen mit Schaudern entgegensehen.
Folgsam verschmolzen die kleinen Kugeln wieder zu einer großen, die sich sanft in die ausgestreckte Hand des Zauberers legte.
»Warte auf mich, Wseslawa, Königin des Grünen Hofs«, murmelte Lubomir und wiegte den schweren Marmor in seiner Hand. »Ich werde kommen.«
Ein spitzer Schrei riss den Zauberer aus seinen Gedanken, und er fuhr herum. Nur wenige Meter von ihm entfernt stand eine hübsche, vielleicht zwanzig Jahre alte Blondine in einem ufernahen Gebüsch. Ihr Kleid befand sich in einer gewissen Unordnung, der Lippenstift war unvorteilhaft um ihren Mund verschmiert und in ihrem Dekolleté prangte eine monströse, geschmacklose Kette aus knallgelben Perlen.
»Was ist los, Lenka?« Der Limousine entstieg ein groß gewachsener, kurzgeschorener Kerl, dem eine Zigarette aus dem Mundwinkel hing. »Warum schreist du denn?«
»Der Typ da!«, keifte die junge Frau entrüstet. »Er hat mich beobachtet!«
Der junge Mann kam dazu und bedachte Lubomir mit einem verächtlichen Blick.
»Bist du ein Perverser, oder was?«, fragte er.
»Ich habe ihr nicht zugesehen«, entgegnete der Zauberer. »So ein Unsinn.«
»Er hat alles gesehen!«, zeterte die Blondine weiter. »Bestimmt hat er uns auch im Auto beobachtet!«
»Du Schwein!«
Lubomir wandte sich wortlos um und wollte gehen, doch der Kerl warf seine Zigarette weg, holte ihn mit zwei gewaltigen Sätzen ein, packte ihn an den
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