Die verborgene Stadt - Die Prophezeiung
Möglichkeit: der Club Eidechse ; und die vage Hoffnung, dass ihm Cortes’ Freunde helfen würden.
Doch was tun bis zum Abend? Am sichersten war es wohl, in der Menschenmenge auf den Straßen unterzutauchen. Allerdings wussten die Rothauben, wie er aussah. Und dummerweise hatte er seinen Geldbeutel im Büro zurücklassen müssen.
Artjom rieb sich den Nasenrücken und begann fieberhaft seine Taschen zu durchwühlen. Das Resultat war ernüchternd: vier Rubel plus ein paar Kopeken und die Plastikkarte der T-Grad-Com. Auf der anderen Straßenseite entdeckte Artjom einen Bankomaten und betrachtete ihn nachdenklich.
»Sie können Ihre Karte in jedem beliebigen Kartenautomaten verwenden«, so hatte es doch in der Bedienungsanleitung der T-Grad-Com-Karte geheißen. Einen Versuch ist es wert, dachte er sich.
Artjom wartete, bis der Bankomat frei war, sah sich verstohlen um, ob ihm auch niemand über die Schulter sah, und steckte die Karte in den Schlitz. Der Automat schluckte sie anstandslos, reagierte mit einem Piepton und auf dem Bildschirm erschien das stilisierte Kürzel T-Grad-Com.
»Zur TKV-Identifikation pressen Sie bitte den rechten Daumen an den Bildschirm«, hieß es auf dem Display.
Artjom tat, was man von ihm verlangte, und sofort rasselten Meldungen über den Bildschirm:
»Identifikation erfolgreich!
Objekt: Artjom Golowin
Genetischer Status: Humo
Sozialer Status: Söldner
Guthaben: 1500 Rubel
Dispo-Limit: 10 %«
Die Unbekannten, die Artjom an das TKV-Netz angeschlossen hatten, waren entweder Hellseher oder begabte Hacker: Der ausgewiesene Betrag entsprach genau seinem Bankguthaben. Doch Artjom hatte keine Zeit, sich über die mysteriöse Koinzidenz Gedanken zu machen.
Nachdem der Bankomat das Bargeld ausgespuckt hatte, machte sich Artjom unverzüglich daran, sein Äußeres zu verändern. In weniger als einer Stunde erwarb er ein weites, buntes Hawaihemd, eine beige Sommerhose und bequeme Schuhe. Sein weißes Hemd, die Krawatte und alle übrigen Büroklamotten landeten in der Mülltonne. Wie jeder Flüchtige, der etwas auf sich hielt, kaufte er in keinem Geschäft mehr als einen Artikel und
zog sich nicht in Gegenwart von Verkäufern um. Beim nächstbesten Friseur tauschte er seine schicken langen Locken gegen einen langweiligen Igelschnitt ein, der ihn in Verbindung mit einer supercoolen Sonnenbrille vollständig unkenntlich machte. Zum Schluss rundete Artjom sein neues Outfit mit einem billigen MP3-Player ab, da er der Meinung war, dass ein Student, der im Takt von Rockmusik mit dem Kopf wackelt, am wenigsten Verdacht erregen würde.
Mit seinem veränderten Äußeren fühlte sich Artjom schon wesentlich wohler. Er setzte sich an einen Tisch im nächsten McDonald’s , um ein paar Hamburger zu essen und beschloss, sich den Grund für seine missliche Lage einmal genauer anzusehen.
Er griff in den Rucksack und zog ein silbernes Behältnis hervor. Der Anblick war insgesamt enttäuschend. Er hätte eher mit einer reich verzierten Schatulle oder einer kleinen Schatztruhe gerechnet, doch es handelte sich um einen ziemlich schmucklosen, schweren Kasten, auf dessen glatt polierten Flächen rätselhafte Runen eingraviert waren.
Das Unerfreulichste an dem Behältnis war, dass es sich nicht öffnen ließ. Vergeblich suchte Artjom nach Schlössern, Schlitzen oder versteckten Hebeln – der Kasten weigerte sich strikt, seinen Inhalt preiszugeben. Dann eben nicht, dachte Artjom und verstaute das mutmaßliche Amulett wieder im Rucksack.
Doch wohin nun damit? In die Eidechse wollte Artjom es nicht mitnehmen. Es schien generell nicht besonders ratsam, einen Gegenstand mit sich herumzutragen, um
dessentwillen vor wenigen Stunden am helllichten Tag ein Mord geschehen war. Er dachte nach und kam zu dem Ergebnis, dass ein Bahnhofsschließfach der ideale Platz für den gefährlichen Rucksack war.
Zufrieden mit seinem Beschluss schob sich Artjom den letzten Bissen seines Hamburgers in den Mund und hätte sich beinahe daran verschluckt: In diesem Augenblick betraten vier Zwerge in schwarzen Lederklamotten, die sich angeregt unterhielten, das Restaurant.
Ein Polizeijeep schlich langsam über die belebte Straße. Träge ließen die von der Hitze betäubten Beamten den Blick über die Gehwege schweifen und hielten Ausschau nach »männlichen Personen geringer Körpergröße mit schwarzer Lederbekleidung und roten Kopftüchern« – so hieß es in ihrem Fahndungsauftrag. Angesichts der Ereignisse der vergangenen
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