Die verborgene Wirklichkeit
Leitfaden zur Aufklärung des Wechselspiels zwischen Energie, Arbeit und Wärme gedient hatte – zu versagen scheint, wenn man ihn in der Nachbarschaft eines Schwarzen Lochs betrachtet. Die Rettung brachte Wheelers junger Doktorand Jacob Bekenstein, der mit einem neuen Denkansatz den Grundstein für das holographische Gedankengebäude legte.
Der Zweite Hauptsatz
Den Ausspruch »weniger ist mehr« gibt es in vielerlei Formen. »Ich möchte nur eine Zusammenfassung hören.« »Nur die Fakten.« »Zu viel des Guten.« »Komm’ zur Sache.« Redewendungen wie diese sind so weit verbreitet, weil wir an jedem Tag und in jeder Sekunde mit Informationen bombardiert werden. Glücklicherweise blenden unsere Sinne die Einzelheiten in den meisten Fällen so weit aus, dass nur das wirklich Wichtige übrig bleibt. Wenn ich mich in der Savanne befinde und einem Löwen begegne, interessiere ich mich nicht für die Bewegungen jedes einzelnen Photons, das von seinem Körper zurückgeworfen wird. Viel zu viel des Guten. Mir geht es nur um bestimmte allgemeine Eigenschaften dieser Photonen, und zwar um jene, die unsere Augen aufgrund ihrer Evolution wahrnehmen können und die unser Gehirn schnell entschlüsseln kann. Kommt der Löwe auf mich zu? Schleicht er sich vorsichtig an? Wenn ich eine detailliert aufgeschlüsselte, von Augenblick zu Augenblick differenzierte Auflistung aller zurückgeworfenen Photonen bekäme, dann erführe ich zwar sämtliche Einzelheiten – aber ich wüsste sie nicht zu deuten. Hier ist weniger tatsächlich viel mehr.
Ähnliche Überlegungen spielen auch in der theoretischen Physik eine zentrale Rolle. Manchmal wollen wir jedes noch so kleine Detail eines untersuchten
Systems kennenlernen. Im 27 Kilometer langen Tunnel des LHC haben die Physiker an denjenigen Stellen, an denen die Teilchen zu ihren Frontalzusammenstößen gelenkt werden, riesige Detektoren aufgebaut. Diese können mit äußerster Genauigkeit die Bewegungen der entstehenden Teilchenfragmente verfolgen. Die Daten sind von entscheidender Bedeutung, wenn man neue Erkenntnisse über die grundlegenden Gesetze der Teilchenphysik gewinnen will; sie sind so detailliert, dass die Ausbeute eines Jahres einen DVD-Stapel füllen würde, der ungefähr 50 Mal so hoch ist wie das Empire State Building. Aber wie bei dem unverhofften Zusammentreffen mit einem Löwen gibt es auch in der Physik Situationen, in denen eine solche Genauigkeit das Bild nicht klärt, sondern verschleiert. Auf solche Systeme konzentriert sich ein Teilgebiet der Physik aus dem neunzehnten Jahrhundert, das Thermodynamik genannt wird und in seiner moderneren Form statistische Mechanik heißt. Ein gutes Beispiel für ihren Anwendungsbereich ist die Dampfmaschine, jene technische Neuerung, die der Thermodynamik – und außerdem der Industriellen Revolution – ihren ersten Antrieb lieferte.
Kernstück der Dampfmaschine ist ein Gefäß voller Wasserdampf, der sich beim Erhitzen ausdehnt und den Kolben der Maschine vorwärtstreibt. Beim Abkühlen zieht sich der Dampf wieder zusammen, so dass der Kolben in seine Ausgangsposition zurückkehrt und anschließend erneut vorwärtsgetrieben werden kann. Im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert erforschten Physiker die molekularen Grundlagen der Materie und sorgten damit unter anderem für ein Bild von der Wirkung, die der Dampf auf mikroskopischer Ebene entfaltet. Wenn Dampf erhitzt wird, nehmen seine H 2 O-Moleküle immer mehr Geschwindigkeit auf und prallen auf die Unterseite des Kolbens. Je heißer sie sind, desto schneller bewegen sie sich und desto größer ist dementsprechend der Druck. Eine einfache, für die Thermodynamik aber unentbehrliche Erkenntnis lautet: Um die Kraft des Dampfes zu verstehen, müssen wir nicht im Einzelnen wissen, welche Moleküle zufällig diese oder jene Geschwindigkeit haben und hier oder dort auf den Kolben treffen. Eine Auflistung der Milliarden und Abermilliarden Flugbahnen, welche die Moleküle einschlagen, würde mir ebenso wenig nützen wie die Aufzählung der Photonen, die von dem Löwen abprallen. Um die Kraft des Kolbens zu ermitteln, brauche ich nur die durchschnittliche Zahl und die Durchschnittsgeschwindigkeit der Moleküle zu kennen, die in einem bestimmten Zeitraum auf den Kolben treffen. Das sind viel gröbere Informationen, aber zweckmäßige, gerade weil sie abgespeckt sind.
In dem Bemühen, mit mathematischen Methoden systematisch Details zugunsten höherer, umfassender
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