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Die verborgene Wirklichkeit

Die verborgene Wirklichkeit

Titel: Die verborgene Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Greene
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Verständnisebenen zu opfern, verfeinerten die
Physiker ein breites Spektrum an Methoden und entwickelten eine Reihe leistungsfähiger Konzepte. Eines davon, das uns in früheren Kapiteln schon kurz begegnet ist, heißt Entropie . Der Begriff wurde Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eingeführt und diente ursprünglich dazu, die Energiedissipation in Verbrennungsmotoren  – zum Beispiel Reibungsverluste – quantitativ zu erfassen. Nach der modernen Sichtweise, die in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts aus den Arbeiten von Ludwig Boltzmann hervorging, sagt die Entropie etwas darüber aus, wie speziell – oder eben nicht – die Bestandteile eines bestimmten Systems angeordnet sein müssen, damit es insgesamt gerade dieses und kein anderes Erscheinungsbild annimmt.
    Um ein Gefühl dafür zu bekommen, können wir uns vorstellen, dass Felix ganz hektisch ist, weil er glaubt, in die Wohnung, die er gemeinsam mit Oscar bewohnt, sei eingebrochen worden. »Die haben alles durchwühlt!«, erzählt er Oscar. Der wimmelt ihn ab – Felix hat doch sicher nur einen seiner seltsamen Momente. Um das zu beweisen, stößt Oscar die Tür zu seinem eigenen Zimmer auf, in dem überall Kleidungsstücke, leere Pizzaschachteln und zerdrückte Bierdosen verstreut sind. »Sieht doch aus wie immer«, grunzt Oscar. Aber Felix lässt nicht locker. »Natürlich sieht es aus wie immer – wenn du einen Schweinestall durchwühlst, sieht der immer noch wie ein Schweinestall aus. Aber sieh dir mal mein Zimmer an.« Er stößt seine eigene Tür auf. »Durchwühlt«, spottet Oscar, »hier ist es doch tipptopp.« »Sauber und ordentlich, ja. Aber die Einbrecher haben ihre Spuren hinterlassen. Meine Flaschen mit den Vitamintabletten? Nicht der Größe nach aufgereiht. Meine gesammelten Werke von Shakespeare? Nicht mehr alphabetisch sortiert. Und meine Sockenschublade? Sieh dir bloß das hier an: schwarze Paare in dem Fach für die blauen! Durchwühlt, ich sag es dir. Ganz offensichtlich durchwühlt.«
    Wenn wir Felix’ Hysterie einmal beiseite lassen, lässt sich dem Szenario etwas Einfaches, aber Wichtiges entnehmen. Wenn etwas sehr unordentlich ist, wie Oscars Zimmer, bleibt das äußere Erscheinungsbild im Großen und Ganzen betrachtet auch bei vielen möglichen Umordnungen der Einzelteile gleich. Ob man die 26 zerknitterten Hemden, die über Bett, Fußboden und Kommode verstreut waren, aufhebt und sie so oder so hinwirft oder die 42 zerdrückten Bierdosen mal hier, mal dort verteilt – der Raum sieht immer gleich aus. Wenn etwas aber exakt geordnet ist wie in Felix’ Zimmer, fällt selbst eine kleine Umordnung sofort auf.
    Dieser Unterschied bildet die Grundlage für Boltzmanns mathematische Definition der Entropie. Man nimmt ein beliebiges System und zählt, auf wie viele Arten seine Bestandteile angeordnet sein können, damit immer der gleiche
makroskopische Gesamteindruck herauskommt. Diese Zahl ist ein Maß für die Entropie des Systems. aa Wenn eine große Zahl solcher Anordnungen existiert, ist die Entropie hoch: Das System ist sehr ungeordnet. Ist die Zahl der Anordnungen klein, dann haben wir es mit niedriger Entropie zu tun: Das System ist stark geordnet (oder, was das Gleiche bedeutet: seine Unordnung ist gering).
    Man kann auch konventionellere Beispiele anführen, beispielsweise ein Gefäß voller Dampf oder einen Eiswürfel. Wir konzentrieren uns hier nur auf die makroskopischen Gesamteigenschaften, die man messen oder beobachten kann, ohne etwas über den detaillierten Zustand der molekularen Bestandteile wissen zu müssen. Wenn wir mit der Hand in dem Dampf wedeln, ordnen wir Milliarden und Abermilliarden H 2 O-Moleküle neu an, und doch sieht der einheitliche Dunst in dem Gefäß aus wie zuvor. Verändern wir dagegen zufällig die Position und Geschwindigkeit derart vieler Moleküle in einem Eisstück, sehen wir die Auswirkungen sofort: Die Kristallstruktur des Eises ist beeinträchtigt; Risse und Brüche werden sichtbar. Der Dampf, dessen H 2 O-Moleküle nach dem Zufallsprinzip durch das Gefäß fliegen, ist höchst ungeordnet; im Eis dagegen sind die H 2 O-Moleküle in einem regelmäßigen Kristallgitter angeordnet und damit stark geordnet. Der Dampf hat eine hohe Entropie (viele Umordnungen führen zum gleichen Aussehen); im Eis ist die Entropie gering (nur wenn die Zahl der Umordnungen gering ist, sieht es noch so aus wie vorher).
    Da man mithilfe der Entropie einschätzen kann, wie empfindlich das

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