Die verborgene Wirklichkeit
Wissenschaften vortrug – ohne dabei allerdings die Tragweite dessen, was zu Schwarzschilds faszinierendstem Vermächtnis werden sollte, richtig einzuschätzen.
Schwarzschilds Lösung zeigt, dass vertraute Himmelskörper wie Sonne und Erde eine mäßig starke Krümmung erzeugen, eine sanfte Delle in dem ansonsten flachen Trampolin der Raumzeit. Dies passte gut zu den Näherungslösungen, die Einstein schon früher hatte ausarbeiten können, aber indem Schwarzschild auf Näherungen verzichtete, konnte er einen Schritt weiter gehen. Seine exakte Lösung offenbarte etwas Verblüffendes: Wenn genügend Masse in einer ausreichend kleinen Kugel zusammengequetscht ist, bildet sich eine Art Gravitationsabgrund. Die Krümmung der Raumzeit wird dann so extrem, dass alles, was diesem Abgrund zu nahe kommt, eingefangen wird. Und da »alles« auch das
Licht einschließt, würden solche Regionen in Schwärze versinken, eine Eigenschaft, die anfangs zu der Bezeichnung »dunkle Sterne« führte. Die extreme Krümmung würde auch die Zeit am Rand des Sterns zum Stillstand bringen; daher war zunächst auch von »gefrorenen Sternen« die Rede. Ein halbes Jahrhundert später machte Wheeler, der für Marketing ein ebenso gutes Gespür hatte wie für Physik, solche Sterne innerhalb und außerhalb der Wissenschaft mit einem Namen populär, den man sich besser merken konnte: Schwarze Löcher. Der Begriff setzte sich durch.
Als Einstein Schwarzschilds Artikel las, war er mit der Anwendung der mathematischen Methoden auf gewöhnliche Sterne oder Planeten einverstanden. Aber für das, was wir heute als Schwarze Löcher bezeichnen, hatte er nur Spott übrig. Selbst für ihn war es in jenen frühen Tagen eine Herausforderung, die verwickelte Mathematik der Allgemeinen Relativitätstheorie in vollem Umfang zu verstehen. Unsere heutigen Kenntnisse über Schwarze Löcher lagen noch um Jahrzehnte in der Zukunft, und die starke Verzerrung von Raum und Zeit, die sich in den Gleichungen bereits abzeichnete, war nach Einsteins Ansicht so radikal, dass sie nicht real sein konnte. Genau wie er sich einige Jahre später der kosmischen Expansion widersetzte, so mochte er auch nicht glauben, dass eine derart extreme Konfiguration der Materie etwas anderes sein könnte als außer Kontrolle geratene mathematische Manipulationen der von ihm gefundenen Gleichungen. 1
Wer die einschlägigen Zahlen betrachtet, wird Einsteins Bedenken gut nachvollziehen können. Damit ein Stern von der Masse der Sonne zu einem Schwarzen Loch wird, müsste er zu einer Kugel mit einem Durchmesser von rund sechs Kilometern zusammengequetscht werden; ein Körper von der Masse der Erde würde nur dann zu einem Schwarzen Loch, wenn er auf einen Durchmesser von knapp zwei Zentimetern zusammengepresst würde. Die Vorstellung, es könne derart extreme Materieanordnungen geben, erscheint auf den ersten Blick geradezu lächerlich. In den seither vergangenen Jahrzehnten konnten die Astronomen mit ihren Beobachtungen indes überzeugende Anhaltspunkte dafür finden, dass Schwarze Löcher real und sogar recht häufig sind. Heute herrscht allgemein Einigkeit darüber, dass viele Galaxien durch ein riesiges Schwarzes Loch in ihrem Zentrum angetrieben werden; unsere eigene Milchstraße rotiert nach heutiger Kenntnis um ein Schwarzes Loch, dessen Masse etwas mehr als drei Millionen Mal so groß ist wie die der Sonne. Wie in Kapitel 4 erläutert wurde, bestehen sogar Aussichten, dass der Teilchenbeschleuniger LHC im Labor winzige Schwarze Löcher erzeugen wird, weil er die Masse (und Energie) heftig kollidierender Protonen auf ein so winziges Volumen zusammenpresst, dass Schwarzschilds Ergebnis wiederum zur Anwendung kommt, wenn auch
dieses Mal auf winzig kleinen Skalen. Schwarze Löcher bezeugen in eindrucksvoller Weise die Möglichkeiten der Mathematik, Licht in die dunklen Winkel des Kosmos zu bringen, und damit sind sie zu einem Hauptanziehungspunkt der modernen Physik geworden.
Schwarze Löcher sind jedoch nicht nur ein Segen für die beobachtende Astronomie, sondern auch zu einer fruchtbaren Inspirationsquelle für die theoretische Physik geworden: Wie in einem mathematischen Sandkasten können Physiker die Grenzen ihrer Ideen ausloten, indem sie mit Papier und Bleistift eines der extremsten Umfelder der Natur erkunden. Ein gewichtiges Beispiel lieferte Wheeler Anfang der siebziger Jahre: Er erkannte, dass der altehrwürdige Zweite Hauptsatz der Thermodynamik – der jahrhundertelang als
Weitere Kostenlose Bücher