Die verborgene Wirklichkeit
makroskopische Erscheinungsbild eines Systems von seinen mikroskopischen Details abhängt, ist sie ein natürliches Konzept in einem mathematischen Formalismus, der sich auf die Gesamtheit der physikalischen Eigenschaften konzentriert. Mit dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik kommt eine quantitative Aussage hinzu: Die Gesamtentropie eines Systems nimmt im Laufe der Zeit immer zu. 2 Um zu verstehen, warum das so ist, braucht man nur das Nötigste über Zufall und Statistik zu wissen. Eine Konfiguration mit höherer Entropie lässt sich definitionsgemäß durch wesentlich mehr mikroskopische Anordnungen verwirklichen als eine mit niedrigerer Entropie. Wenn ein System sich weiterentwickelt, durchläuft es mit überwältigend größerer Wahrscheinlichkeit Zustände mit höherer Entropie, weil es schlicht mehr davon gibt. Und zwar viel mehr. Wenn ein Brot im Backofen ist, riecht man es im ganzen Haus, weil es für die Moleküle, die aus dem Brot strömen und sich ausbreiten, Billionen Mal mehr Anordnungen gibt, die sich im ganzen Haus verbreiten und einen einheitlichen Duft liefern, als solche, bei denen die Moleküle alle dicht in
einer Ecke der Küche zusammengedrängt sind. Die Zufallsbewegungen der heißen Moleküle werden sie mit ziemlicher Sicherheit in eine der vielen weiträumig verteilten Anordnungen treiben und nicht in eine der wenigen, in denen sie dicht gedrängt sind. Das heißt aber: Die Ansammlung der Moleküle entwickelt sich von niedrigerer hin zu höherer Entropie. Genau das steckt hinter dem Zweiten Hauptsatz.
Der Gedanke ist allgemeingültig. Ein Glas, das zerbricht, eine Kerze, die abbrennt, Tinte, die verschüttet wird, Parfüm, dessen Duft sich verbreitet: Die Prozesse sind unterschiedlich, aber für alle gelten die gleichen statistischen Überlegungen. In allen Fällen wird Ordnung in Unordnung umgewandelt, und das geschieht, weil es so viele verschiedene ungeordnete Zustände gibt. Solche Analysen – die Erkenntnis bereitete mir eines der eindrücklichsten Aha-Erlebnisse in meiner physikalischen Ausbildung – sind deshalb so schön, weil man sich nicht in den mikroskopischen Einzelheiten verlieren muss und dennoch zeigen kann, warum viele Phänomene so und nicht anders ablaufen.
Zu beachten gilt es auch, dass der Zweite Hauptsatz eine statistische Aussage trifft: Er besagt nicht, dass die Entropie nicht abnehmen kann , sondern nur, dass dieses Ereignis extrem unwahrscheinlich ist. Die Milchmoleküle, die ich gerade in meinen Kaffee gegossen habe, könnten sich durch ihre Zufallsbewegungen zu einem schwimmenden Bild des Weihnachtsmannes zusammenfinden. Aber deshalb braucht niemand den Atem anzuhalten. Ein schwimmender Weihnachtsmann aus Milch hat eine sehr niedrige Entropie. Wenn man ein paar Milliarden seiner Moleküle hin- und herbewegt, sieht man das Ergebnis: Der Weihnachtsmann verliert den Kopf oder einen Arm oder löst sich in abstrakte weiße Fäden auf. Im Vergleich dazu hat eine Konfiguration, in der die Milchmoleküle gleichmäßig verteilt sind, ungeheuer viel mehr Entropie: Eine Riesenzahl verschiedener Anordnungen sieht immer wie ganz normaler Kaffee mit Milch aus. Mit überwältigend großer Wahrscheinlichkeit wird die in den schwarzen Kaffee gegossene Milch ihm daher eine einheitlich hellbraune Farbe verleihen, und nirgendwo ist ein Weihnachtsmann zu sehen. Ähnliche Überlegungen gelten für die große Mehrzahl an Entwicklungen von hoher zu niedriger Entropie, und damit scheint der Zweite Hauptsatz unverletzlich zu sein.
Der Zweite Hauptsatz und die Schwarzen Löcher
Kommen wir jetzt zu Wheelers Aussage über Schwarze Löcher. Anfang der siebziger Jahre fiel ihm auf, dass der Zweite Hauptsatz verletzt zu sein scheint, wenn Schwarze Löcher ins Spiel kommen. Ein in der Nähe gelegenes Schwarzes Loch scheint im Gegenteil ein gebrauchsfertiges, zuverlässiges Mittel zur Verringerung der Gesamtentropie zu sein. Man braucht nur irgendein System, das man untersucht – zersplittertes Glas, abgebrannte Kerzen, vergossene Milch –, in das Loch zu werfen. Da nichts aus einem Schwarzen Loch herauskommt, wäre die Unordnung des Systems scheinbar für immer verschwunden. Es mag ein grobes Verfahren sein, aber scheinbar kann man die Gesamtentropie ohne Weiteres vermindern, wenn man zu diesem Zweck ein Schwarzes Loch zur Verfügung hat. Damit, so glaubten viele, war der Zweite Hauptsatz an seine Grenzen gestoßen.
Wheelers Student Bekenstein war davon nicht überzeugt.
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