Die verborgene Wirklichkeit

Ähnlichkeit mit dem von ihm erzeugten dreidimensionalen Bild. Auf seiner Oberfläche erkennt man nur verschiedene Linien, Bögen und Wirbel, die in den Kunststoff eingeätzt sind. Erst durch eine komplexe Umwandlung, die in der Praxis von einem durch den Kunststoff fallenden Laserstrahl bewirkt wird, wird aus diesen Markierungen ein erkennbares, dreidimensionales Bild. Das Hologramm aus Kunststoff und das dreidimensionale Bild verkörpern also dieselben Daten, obwohl die Information in dem einen aus Sicht des anderen nicht erkennbar ist. Analog hat auch die Quantenfeldtheorie am Rand des Maldacena-Universums keine offensichtliche Ähnlichkeit mit der Stringtheorie im Innenraum. Würde man einem Physiker beide Theorien vorlegen, ohne ihm etwas über die zuvor erörterten Zusammenhänge zu sagen, würde er aller Wahrscheinlichkeit nach zu dem Schluss gelangen, dass sie nichts miteinander zu tun haben. In Wirklichkeit jedoch macht das mathematische Wörterbuch, das – ganz ähnlich wie der Laser bei normalen Hologrammen – beide verbindet, deutlich, dass alles, was in der einen Theorie stattfindet, auch in der anderen verkörpert ist. Gleichzeitig zeigt die Analyse des Wörterbuches, ebenfalls wie bei einem echten Hologramm, dass die in der einen enthaltene Information bei der Übersetzung in die Sprache der anderen scheinbar durcheinandergewürfelt wird.
    Ein besonders eindrucksvolles Beispiel untersuchte Witten: Wie würde ein gewöhnliches Schwarzes Loch im Innern von Maldacenas Universum aus Sicht der auf dem Rand definierten Theorie aussehen? Wie gesagt: Diese Theorie enthält keinerlei Gravitation, und deshalb verwandelt sich ein Schwarzes Loch zwangsläufig in etwas, das ganz anders aussieht. Wie Witten zeigen konnte, sind die Verhältnisse ganz ähnlich wie bei dem Furcht einflößenden Gesicht des Zauberers von Oz, das zu einem gewöhnlichen Mann gehörte. Auch das gefräßige Schwarze Loch ist die holographische Projektion von etwas ganz Normalem: einem Bad aus heißen Teilchen auf der Randfläche ( Abbildung 9.6 ). Wie ein
echtes Hologramm und das von ihm erzeugte Bild, so haben auch die beiden Theorien – ein Schwarzes Loch im Inneren und die Quantenfeldtheorie eines heißen Teilchenbades am Rand – keine erkennbare Ähnlichkeit miteinander, und doch verkörpern sie die gleiche Information. af
    Abbildung 9.6 Die holographische Äquivalenz, angewandt auf ein Schwarzes Loch im Innenraum der Raumzeit. Am Rand der Region erhält man ein heißes Bad aus Teilchen und Strahlung.
    In Platons Höhlengleichnis nehmen unsere Sinne nur eine platte, abgespeckte Version der eigentlichen, viel reicher strukturierten Wirklichkeit wahr. Maldacenas abgeflachte Welt ist da ganz anders. Sie bietet uns keine eingeschränkte
Version der Ereignisse, sondern erzählt uns alles. Es ist eine grundsätzlich andere Geschichte als die, an die wir gewöhnt sind. Aber Maldacenas flache Welt könnte durchaus der eigentliche Erzähler sein.
    Paralleluniversen oder Parallelmathematik?
    Maldacenas Ergebnisse und die vielen anderen, die in den Folgejahren daraus erwuchsen, sind vorläufiger Natur. Da die mathematischen Operationen ungeheuer schwierig sind, ist das Ziel, eine wasserdichte Argumentation zu entwickeln, noch nicht erreicht. Die hier skizzierten Überlegungen zur Holographie wurden jedoch einer Vielzahl strenger mathematischer Prüfungen unterzogen; und da sie diese unbeschadet überstanden, sind sie unter den Physikern, die nach den tiefsten Wurzeln der Naturgesetze suchen, inzwischen weitgehend akzeptiert.
    Warum der Befund – wenn er denn stimmt – so folgenreich ist, wird an einem Umstand deutlich, der gleichzeitig den Beweis, dass die Raumzeitrand- und Innenraumwellen verschiedene Versionen der gleichen Sache sind, so schwierig macht. In Kapitel 5 habe ich erläutert, dass Physiker in den meisten Fällen auf die dort skizzierten Näherungsverfahren zurückgreifen, insbesondere auf die Störungsrechnung (man denke nur an das Beispiel mit Bart, Lisa und der Lotterie). Ebenso habe ich darauf hingewiesen, dass solche Methoden nur dann hinreichend genaue Ergebnisse liefern, wenn die betreffende Kopplungskonstante eine kleine Zahl ist. Als Maldacena den Zusammenhang zwischen der Quantenfeldtheorie auf der Randfläche und der Stringtheorie im Innenraum analysierte, wurde ihm etwas Wichtiges klar: Wenn die Kopplungskonstante in der einen Theorie klein ist, ist sie in der anderen groß und umgekehrt. Eine naheliegende