Die verborgene Wirklichkeit
einig: Wenn man mein Gehirn mit irgendeinem geeigneten Hilfsmittel Molekül für Molekül, Atom für Atom kopieren könnte, würde das Produkt tatsächlich genauso denken und fühlen wie ich. Auch Funktionalisten würden hier im Wesentlichen zustimmen. Sie würden uns zwar anweisen, uns beim Kopieren auf Strukturen höherer Ordnung zu konzentrieren – all meine Gehirnverknüpfungen zu duplizieren, so dass alle Gehirnprozesse beibehalten werden, während das physische Substrat, auf dem sie sich abspielen, sich ändert –, ansonsten aber zu der gleichen Schlussfolgerung gelangen. Dualisten wären zu beiden Kopierversuchen anderer Meinung.
Der Gedanke, es könne künstliches Bewusstsein geben, geht eindeutig auf einen funktionalistischen Blickwinkel zurück. Eine zentrale Annahme dieser Vorstellung lautet: Bewusstes Denken wird dem Gehirn nicht übergestülpt, sondern ist das, was durch eine bestimmte Form der Informationsverarbeitung entsteht. Ob die Verarbeitung sich innerhalb einer anderthalb Kilo schweren biologischen Masse oder in den Schaltkreisen eines Computers abspielt, ist bedeutungslos. Diese Annahme könnte auch falsch sein. Vielleicht braucht ein Bündel von Verknüpfungen einen Nährboden aus gefurchter, feuchter Materie,
damit es ein Bewusstsein seiner selbst erlangen kann. Vielleicht braucht man gerade jene physikalischen Moleküle, die ein Gehirn aufbauen, damit bewusstes Denken das Unbelebte belebt, und nicht nur jene Prozesse und Verknüpfungen, die durch diese Moleküle erleichtert werden. Vielleicht wird sich die Form der Informationsverarbeitung, die von Computern ausgeführt wird, immer in einem entscheidenden Aspekt von der Gehirnfunktion unterscheiden, so dass der Sprung zum künstlichen Bewusstsein verhindert wird. Vielleicht ist bewusstes Denken auch grundsätzlich nicht physikalischer Natur, wie es verschiedene Traditionen behaupten; dann würde es für alle Zeiten außerhalb der Reichweite technischer Neuerungen liegen.
Mit der Entwicklung einer immer fortgeschritteneren Technologie spitzten solche Fragen sich stärker zu, und die Wege zu möglichen Antworten konkretisierten sich. Mehrere Wissenschaftlerteams haben bereits erste Schritte unternommen, um ein biologisches Gehirn im Computer zu simulieren. Das Blue Brain Project beispielsweise, ein Gemeinschaftsunternehmen von IBM und der École Polytechnique Fédérale im schweizerischen Lausanne, hat es sich zum Ziel gesetzt, Gehirnfunktionen auf dem schnellsten IBM-Supercomputer nachzubilden. Blue Gene, wie der Supercomputer genannt wird, ist eine leistungsfähigere Version des Rechners Deep Blue, der 1997 den Schachweltmeister Gary Kasparow besiegte. Bei Blue Brain geht man an das Thema nicht wesentlich anders heran als in den Szenarien, die ich gerade beschrieben habe. Durch eingehende anatomische Untersuchung echter Gehirne haben die Wissenschaftler sich immer genauere Erkenntnisse über die zelluläre, genetische und molekulare Struktur der Neuronen und ihrer Verknüpfungen verschafft. Ziel des Projektes ist es, diese Kenntnisse – vorerst vor allem auf der Ebene der Zellen – in digitalen Modellen zu codieren, die der Blue-Gene-Computer simulieren kann. Bisher haben die Wissenschaftler an Ergebnisse von mehreren zehntausend Experimenten angeknüpft, in denen es um einen bestimmten Abschnitt des Neocortex von Ratten ging; mit ihrer Hilfe haben sie eine dreidimensionale Computersimulation von ungefähr 10 000 Neuronen entwickelt, die über rund zehn Millionen Verknüpfungen miteinander kommunizieren. Vergleicht man die Reaktion eines echten Rattenhirns mit jener der Computersimulation auf die gleichen Reize, zeigt sich, dass das synthetische Modell dem Original erfreulich nahekommt. Damit ist man noch weit von den 100 Milliarden Neuronen entfernt, die in einem typischen Menschenkopf ihre Impulse austauschen, aber wenn man den Prophezeiungen des Neurowissenschaftlers Henry Markram glaubt, der das Projekt leitet, könnte Blue Brain schon vor 2020 mit Verarbeitungsgeschwindigkeiten, die um einen Faktor von mehr als einer Million höher liegen als jetzt, zu
einer vollständigen Simulation des menschlichen Gehirns gelangen. Blue Brain verfolgt nicht das Ziel, künstliches Bewusstsein zu schaffen, sondern soll ein neues Forschungshilfsmittel zur Entwicklung von Therapieverfahren für verschiedene psychische Krankheiten zur Verfügung stellen. Dennoch hat Markram sich weiter aus dem Fenster gelehnt und spekuliert, Blue Brain könne,
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