Die verborgene Wirklichkeit
Universum keine Sonderstellung verschafft, denn im letztmöglichen Multiversum existieren alle Universen, die möglich sind. Damit löst sich die Frage, warum ein System von Gesetzen ein wirkliches Universum – das unsere – beschreibt, während alle anderen sterile Abstraktionen
sind, in Luft auf. Es gibt keine sterilen Gesetze. Alle Gesetzessysteme beschreiben reale Universen.
Interessanterweise stellte Nozick fest, dass es in seinem Multiversum auch ein Universum gibt, das aus nichts besteht. Absolut nichts. Kein leerer Raum, sondern jenes Nichts, das Gottfried Leibniz meinte, als er seine berühmte Frage stellte: »Warum gibt es etwas und nicht nichts?« Nozick konnte es nicht wissen, aber in mir löste seine Beobachtung gewisse Erinnerungen aus. Als ich zehn oder elf Jahre alt war, stieß ich auf Leibniz‘ Frage und fand sie zutiefst beunruhigend. Ich ging in meinem Zimmer auf und ab, wobei ich zu begreifen versuchte, was das Nichts ist. Oft hielt ich dabei eine Hand hinter meinen Hinterkopf, weil ich glaubte, die Bemühungen, das Unmögliche zu tun – meine Hand zu sehen –, würden mir helfen, die Bedeutung des völligen Fehlens zu begreifen. Noch heute sinkt mir der Mut, wenn ich mich auf das absolute, wahre Nichts konzentriere. Das völlige Nichts entspricht aus unserem vertrauten Blickwinkel des Etwas dem umfassendsten Verlust. Aber da das Nichts gleichzeitig so viel einfacher zu sein scheint als das Etwas – keine Gesetze, die wirken, keine Materie, kein Raum, den man bewohnen könnte, keine Zeit, die abläuft –, scheint Leibniz‘ Frage genau ins Schwarze zu treffen. Warum gibt es nicht nichts? Das Nichts wäre entschieden höchst elegant.
Im letztmöglichen Multiversum existiert tatsächlich ein Universum, das aus nichts besteht. So weit wir es beurteilen können, ist das Nichts eine völlig legitime logische Möglichkeit, und deshalb muss man es in ein Multiversum, das alle Universen einschließt, mit aufnehmen. Nozicks Antwort auf Leibniz lautet also: Im letztmöglichen Universum gibt es zwischen etwas und nichts kein Ungleichgewicht, das nach einer Erklärung verlangen würde. Universen beider Typen sind Teil dieses Multiversums. Ein Nichts-Universum ist nichts, worüber man sich besondere Gedanken machen müsste. Nur weil wir Menschen etwas sind, haben wir keinen Zugriff auf das Nichts-Universum.
Ein Theoretiker, der in der Sprache der Mathematik geübt ist, versteht unter Nozicks allumfassendem Multiversum eines, in dem alle möglichen mathematischen Gleichungen physikalisch verwirklicht sind. Es ist eine Version der »Bibliothek von Babel« aus der Erzählung von Jorge Luis Borges, in der die Bücher in der Sprache der Mathematik geschrieben sind, und deshalb enthalten sie alle möglichen sinnvollen, sich nicht selbst widersprechenden Ketten mathematischer Symbole. ak In manchen dieser Bücher würden bekannte Formeln stehen,
beispielsweise die Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie und die der Quantenmechanik, die auf die bekannten Teilchen in der Natur angewandt werden. Aber solche erkennbaren Reihen mathematischer Symbole wären äußerst selten. Die Gleichungen in den meisten Büchern hätte noch nie jemand niedergeschrieben; es wären Gleichungen, die man normalerweise für reine Abstraktionen halten würde. Hinter dem letztmöglichen Multiversum steht der Gedanke, dass man diese vertraute Sichtweise aufgeben muss. Es wäre nicht mehr so, dass die meisten Gleichungen verborgen sind und nur wenige glückliche auf rätselhafte Weise durch physikalische Verwirklichung zum Leben erweckt werden. Stattdessen ist jedes Buch in der Bibliothek des mathematischen Babel ein reales Universum.
In dieser mathematischen Formulierung bietet Nozicks Vorschlag eine konkrete Antwort auf eine seit Langem diskutierte Frage. Seit Jahrhunderten fragen sich Mathematiker und Philosophen, ob die Mathematik entdeckt oder erfunden wird. Sind mathematische Konzepte und Erkenntnisse »da draußen«, so dass sie nur auf einen unermüdlichen Entdecker warten, der über sie stolpert? Der aber sitzt wahrscheinlich mit dem Bleistift in der Hand an einem Schreibtisch und kritzelt hektisch exotische Symbole auf ein Blatt Papier; sind die daraus entstehenden mathematischen Konzepte und Wahrheiten dann nicht vielmehr Erfindungen, die der Geist auf seiner Suche nach Ordnung und Gesetzmäßigkeiten macht?
Auf den ersten Blick scheint die geradezu gespenstische Art, auf die viele mathematische
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