Die verborgene Wirklichkeit
Erkenntnisse ihre Anwendung auf physikalische Phänomene anwendbar sind, ein überzeugender Beleg dafür zu sein, dass die Mathematik real ist. Beispiele gibt es in Hülle und Fülle. Von der Allgemeinen Relativitätstheorie bis zur Quantenmechanik haben Physiker immer wieder festgestellt, dass verschiedene mathematische Entdeckungen maßgeschneidert zu physikalischen Anwendungsbereichen passen. Ein einfaches, aber eindrucksvolles Beispiel ist die Vorhersage des Positrons (des Antiteilchens zum Elektron) durch Paul Dirac. Als er 1931 seine Quantengleichungen für die Bewegung von Elektronen löste, stellte er fest, dass die Berechnungen noch eine zusätzliche Lösung zuließen. Diese beschrieb die Bewegung eines Teilchens, das dem Elektron gleicht, aber eine positive elektrische Ladung trägt (während das Elektron selbst negativ geladen ist). Genau dieses Teilchen wurde 1932 durch Carl Anderson entdeckt, als er eingehende Untersuchungen an kosmischer Strahlung vornahm, die unsere Erde aus dem Weltraum erreicht. Was bei Dirac als Manipulation mathematischer Symbole im Notizbuch begann, endete im Labor mit der experimentellen Entdeckung der ersten Form von Antimaterie.
Der Skeptiker könnte natürlich einwenden: Die Mathematik ist immer noch ein Produkt von uns Menschen. Wir wurden von der Evolution so gestaltet, dass wir in unserer Umwelt Gesetzmäßigkeiten finden; je besser uns dies gelingt, desto besser können wir vorhersagen, wo sich die nächste Mahlzeit auftreiben lässt. Die Mathematik, die Sprache der Gesetzmäßigkeiten, ist ein Ergebnis unserer biologischen Anpassung. Und mit dieser Sprache konnten wir die Suche nach neuen Gesetzmäßigkeiten systematisieren und damit weit über das hinausgehen, was für das bloße Überleben notwendig ist. Aber wie alle Hilfsmittel, die wir im Laufe der Zeitalter entwickelt und benutzt haben, so ist auch die Mathematik eine Erfindung der Menschen.
Meine eigenen Ansichten über die Mathematik wechseln von Zeit zu Zeit. Wenn ich mich mitten in einer mathematischen Untersuchung befinde und gut vorankomme, habe ich häufig das Gefühl, dass es ein Prozess des Entdeckens und nicht des Erfindens ist. Für mich gibt es kein spannenderes Erlebnis als zuzusehen, wie die Einzelteile eines mathematischen Puzzles sich plötzlich zu einem einzigen, zusammenhängenden Bild fügen. Wenn das geschieht, habe ich das Gefühl, als sei das Bild die ganze Zeit da gewesen wie ein großartiges Panorama, das sich hinter dem Morgennebel verbirgt. Betrachte ich die Mathematik dagegen eher objektiv, bin ich weniger überzeugt. Mathematisches Wissen ist buchstäblich das Produkt von Menschen, die sich in der ungewöhnlich präzisen Sprache der Mathematik unterhalten. Und was mit Sicherheit für die Literatur in einer der natürlichen Sprachen der Welt gilt, trifft wahrscheinlich auch auf die mathematische Literatur zu: Sie ist das Produkt von menschlichem Einfallsreichtum und menschlicher Kreativität. Das heißt nicht, dass andere intelligente Lebensformen nicht auf die gleichen mathematischen Befunde stoßen würden wie wir; dies könnte durchaus der Fall sein. Ebenso könnten sich darin aber auch Ähnlichkeiten in unserem Erleben widerspiegeln (beispielsweise die Notwendigkeit, zu zählen, die Notwendigkeit, Handel zu betreiben, die Notwendigkeit, Gelände zu vermessen, und so weiter); dann wären die Gemeinsamkeiten wohl kaum ein Beleg dafür, dass die Mathematik von transzendenter Existenz ist.
Vor ein paar Jahren erklärte ich in einer öffentlichen Diskussion zu dem Thema, ich könne mir eine Begegnung mit Außerirdischen vorstellen, in deren Verlauf sie, nachdem sie von unseren wissenschaftlichen Theorien erfahren haben, bemerken: »Ach ja, die Mathematik. Das haben wir auch eine Zeitlang probiert. Am Anfang schien es vielversprechend zu sein, aber letztlich war es eine Sackgasse. Jetzt zeigen wir euch mal, wie das wirklich funktioniert.« Ich weiß allerdings nicht, wie die Außerirdischen den Satz wirklich beendet hätten, und wenn man die Definition der Mathematik ausreichend weit fasst
(zum Beispiel als logische Ableitungen, die sich aus einer Reihe von Annahmen ergeben), bin ich mir nicht einmal sicher, was für Antworten es überhaupt geben könnte, die nicht auf Mathematik hinausliefen. So viel zu meiner eigenen Unschlüssigkeit.
Das letztmögliche Multiversum bezieht in dieser Frage eindeutig Stellung: Jegliche Mathematik ist real in dem Sinn, dass sie ein wirkliches Universum
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