Die verborgene Wirklichkeit
früheren geometrischen Erkenntnisse von Mathematikern wie Carl Friedrich Gauß, Bernhard Riemann und Nikolai Lobatschewski. Heute trägt die Stringtheorie in einem gewissen Sinn dazu bei, Einsteins intellektuelle Schulden zurückzuzahlen: Sie treibt die Entwicklung neuer mathematischer Verfahren voran. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele, ich möchte hier aber nur eines nennen, das ein Gespür für die mathematischen Errungenschaften der Stringtheorie vermittelt.
Die Allgemeine Relativitätstheorie stellt eine enge Verbindung zwischen der Geometrie der Raumzeit und beobachteten physikalischen Phänomenen her.
Geben wir die Verteilung von Materie und Energie vor, dann sagen Einsteins Gleichungen uns etwas darüber, wie die Raumzeit in dieser Region verzerrt. Andere physikalische Situationen (das heißt andere Konfigurationen von Masse und Energie) liefern anders geformte Raumzeiten; verschiedene Raumzeiten entsprechen physikalisch unterschiedlichen Situationen. Wie würde es sich anfühlen, wenn man in ein Schwarzes Loch fällt? Das kann man anhand der Raumzeitgeometrie berechnen, die Karl Schwarzschild bei seiner Untersuchung sphärischer Lösungen für Einsteins Gleichungen entdeckte. Und wenn das Schwarze Loch schnell rotiert? Das zu berechnen, ermöglicht die Raumzeitgeometrie, die der neuseeländische Mathematiker Roy Kerr 1963 fand. In der Allgemeinen Relativitätstheorie ist die Geometrie das Yin zum Yang der Physik.
Die Stringtheorie fügt zu dieser Erkenntnis eine wichtige Wendung hinzu: Sie weist nach, dass es komplett unterschiedliche Formen der Raumzeit geben kann, die dennoch physikalisch ununterscheidbare Beschreibungen der Realität liefern.
Unter anderem kann man sich das folgendermaßen vorstellen: Von der Antike bis in die Neuzeit haben die Mathematiker geometrische Räume als Ansammlungen von Punkten dargestellt. Ein Tischtennisball wird beispielsweise durch die Sammlung von Punkten modelliert, die seine Oberfläche bilden. Bevor es die Stringtheorie gab, wurden auch die Grundbestandteile der Materie als Punkte – punktförmige Teilchen – dargestellt, und diese Gemeinsamkeit bei den Grundbestandteilen sprach auch für eine Übereinstimmung von Geometrie und Physik. In der Stringtheorie jedoch ist der Grundbestandteil kein Punkt, sondern ein String. Demnach liegt die Vermutung nahe, dass man mit der Physik der Strings auch eine neue Form der Geometrie in Verbindung bringen sollte, die nicht auf Punkten, sondern auf Schleifen basiert. Diese neue Geometrie wird als Stringgeometrie bezeichnet.
Um ein Gespür für die Stringgeometrie zu bekommen, können wir uns vorstellen, wie ein String sich durch den geometrischen Raum bewegt. Dabei gilt es zu beachten, dass der String sich wie ein punktförmiges Teilchen verhalten kann: Er schwebt unschuldig von hier nach dort, stößt gegen Wände, steuert durch Rinnen und Täler und so weiter. In bestimmten Situationen jedoch kann der String auch etwas Neues tun. Stellen wir uns vor, der Raum (oder ein Stück des Raumes) habe die Form eines Zylinders. Ein String kann sich um ein solches Stück des Raumes herumschlingen, ganz ähnlich wie ein Gummiband, das sich um eine Getränkedose spannt. Damit verwirklicht er eine Konfiguration, die für ein punktförmiges Teilchen nicht möglich ist. Solche Strings, nennen wir sie kurz »gewickelt«, und ihre »ungewickelten« Vettern erkunden einen geometrischen
Raum auf unterschiedliche Weise. Sollte ein Zylinder dicker werden, reagiert der String, der ihn umwickelt, mit Dehnung; ein ungewickelter String, der nur über die Oberfläche des Zylinders gleitet, tut das nicht. Auf diese Weise sprechen gewickelte und ungewickelte Strings auf unterschiedliche Merkmale eines Raumes an, durch den sie sich hindurchbewegen.
Diese Beobachtung ist von großem Interesse, denn sie führt zu einer verblüffenden, völlig unerwarteten Schlussfolgerung. Die Stringtheoretiker haben für den Raum besondere Paare geometrischer Räume gefunden, die völlig unterschiedliche Merkmale haben, wenn man sie einzeln mit ungewickelten Strings analysiert. Ebenso sind ihre Merkmale völlig unterschiedlich, wenn man sie nur mit gewickelten Strings untersucht. Aber – und das ist der eigentliche Clou – wenn man sie mit beiden Methoden untersucht, das heißt sowohl mit gewickelten als auch mit ungewickelten Strings, sind die Räume nicht mehr zu unterscheiden. Was die ungewickelten Strings an einem Raum sehen, sehen die gewickelten an dem
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