Die verborgene Wirklichkeit
anderen und umgekehrt, so dass das Gesamtbild, das sich aus der vollständigen Physik der Stringtheorie ergibt, identisch ist.
Räume, die solche Paare bilden, stellen ein leistungsfähiges mathematisches Hilfsmittel dar. Wenn man sich in der Allgemeinen Relativitätstheorie für diese oder jene physikalische Eigenschaft interessiert, muss man eine mathematische Berechnung anstellen und dazu genau denjenigen geometrischen Raum verwenden, welcher der untersuchten Situation entspricht. In der Stringtheorie jedoch bedeutet die Tatsache, dass es Paare physikalisch gleichwertiger geometrischer Räume gibt, dass man sich frei entscheiden kann, die erforderliche Berechnung mit dem einen oder mit dem anderen Raum anzustellen. Und was das Ungewöhnliche dabei ist: Man erhält zwar bei Verwendung beider Räume unter Garantie das gleiche Ergebnis, in den mathematischen Details können sich aber die Wege zur Antwort ganz gewaltig unterscheiden. In einer Reihe von Situationen werden ungeheuer schwierige mathematische Berechnungen an dem einen geometrischen Raum zu äußerst leichten Berechnungen an dem anderen. Und jedes System, das schwierige mathematische Berechnungen einfacher macht, ist natürlich von großem Wert.
Im Laufe der Jahre haben sich Mathematiker und Physiker dieses Wörterbuch schwierig/einfach zunutze gemacht, um mit der Lösung einer Reihe unerledigter mathematischer Fragestellungen voranzukommen. Besonders gut gefällt mir eine, bei der es um die Zahl der Kugeln geht, die man (auf eine besondere, mathematisch genau definierte Weise) in einem vorgegebenen Calabi-Yau-Raum unterbringen kann. Für diese Frage interessieren Mathematiker sich schon lange, mussten jedoch feststellen, dass die Berechnungen, von den einfachsten Fällen
abgesehen, undurchführbar waren. Nehmen wir als Beispiel den Calabi-Yau-Raum in Abbildung 4.6 . Packt man in diese Form eine Kugel hinein, kann sie sich mehrfach um einen bestimmten Teil des Calabi-Yau-Raums wickeln, ganz ähnlich wie ein Lasso, das sich mehrere Male um ein Bierfass wickelt. Auf wie viele Arten kann man also eine Kugel in diesen Raum packen, wenn sie sich beispielsweise fünf Mal herumwickelt? Mathematiker, denen man eine solche Frage stellte, räusperten sich, blickten ihre Schuhspitzen an und verabschiedeten sich dann schnell wegen dringender Termine. Durch die Stringtheorie wurden die Hürden niedriger. Wenn man solche Berechnungen mit dem zweiten Calabi-Yau-Raum eines Paares in einfachere Verfahren umsetzte, konnte man zu Antworten gelangen, die für Mathematiker ein Schock waren. Die Zahl der fünffach gewickelten Kugeln, die man in den Calabi-Yau-Raum in Abbildung 4.6 packen kann? 229 305 888 887 625. Und wenn die Kugeln zehn Mal herumgewickelt sind? 704 288 164 978 454 686 113 488 249 750. Zwanzig Mal? 53 126 882 649 923 577 113 917 814 483 472 714 066 922 267 923 866 471 451 936 000 000. Diese Zahlen erwiesen sich als Vorboten eines ganzen Spektrums neuer Befunde, die ein ganz neues Kapitel der mathematischen Entdeckungsgeschichte aufschlugen. 17
Ob die Stringtheorie nun also ein richtiger Ansatz für die Beschreibung des physikalischen Universums ist oder nicht: Dass sie ein leistungsfähiges Hilfsmittel zur Erforschung des mathematischen Universums darstellt, hat sie bereits bewiesen.
Der Stand der Stringtheorie: eine Einschätzung
Tabelle 4.2 gibt auf Grundlage der letzten vier Abschnitte einen Bericht zum Stand der Stringtheorie; dabei enthält sie auch einige Beobachtungen, die ich im Text vorher nicht ausdrücklich erläutert habe. Die Tabelle zeichnet das Bild einer Theorie, die noch im Entstehen begriffen ist; sie hat zwar bereits verblüffende Leistungen erbracht, aber ihre wichtigste Prüfung – die Bestätigung durch Experimente – noch nicht bestanden. Die Theorie wird spekulativ bleiben, bis eine überzeugende Verbindung zu Experimenten oder Beobachtungen hergestellt wird. Eine solche Verbindung nachzuweisen, ist die große Herausforderung. Aber vor dieser Herausforderung steht nicht nur die Stringtheorie. Mit jedem Versuch, Gravitation und Quantenmechanik zu vereinigen, betritt man einen Bereich, dessen Vorhersagen weit jenseits der Nachweismöglichkeiten liegen, die an der vordersten Front der experimentellen Forschung zur Verfügung stehen. Das ist unausweichlich, wenn man ein derartiges, höchst ehrgeiziges Ziel in Angriff nimmt. Die Grenzen unseres Wissens über die Grundlagen der Welt immer weiter
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