Die verborgene Wirklichkeit
einzigartig wäre; dann könnte man immer noch Fragen nach dem »glücklichen Zufall« oder der »tiefer gehenden Erklärung« stellen. Im Schuhgeschäft lässt sich die Frage, warum gerade unsere Schuhgröße erhältlich ist, nur dann stichhaltig beantworten, wenn das Geschäft viele verschiedene Größen vorrätig hat, und eine stichhaltige Erklärung der Tatsache, dass ein Planet sich in einem lebensfreundlichen Abstand von seinem Zentralstern befindet, die nach dem gleichen Prinzip funktioniert, setzt viele verschiedene Planeten voraus, die ihre Sterne aus ganz unterschiedlichen Entfernungen umkreisen; ebenso setzt eine stichhaltige
analoge Erklärung der Naturkonstanten eine riesige Ansammlung von Universen voraus, in denen diese Konstanten viele verschiedene Werte haben. Nur in einem solchen Umfeld – einem Multiversum, und einem stabilen noch dazu – können wir das Rätsel mit anthropischen Überlegungen zu etwas Banalem machen. t
Wie stark wir uns vom anthropischen Denkansatz beeinflussen lassen, hängt also eindeutig davon ab, inwieweit wir von seinen drei Grundannahmen überzeugt sind. Erstens: Unser Universum ist Teil eines Multiversums. Zweitens: In den verschiedenen Universen des Multiversums haben die Konstanten ein breites Spektrum möglicher Werte. Drittens: Bei den meisten Varianten der Konstanten mit Ausnahme der Werte, die wir messen, könnte sich Leben, wie wir es kennen, nicht entwickeln.
Als Carter in den siebziger Jahren diese Ideen vertrat, war die Vorstellung von Paralleluniversen vielen Physikern ein Gräuel. Auch heute noch haben wir allen Grund, skeptisch zu sein. Aber wie wir in den vorangegangenen Kapiteln erfahren haben, ist zwar jede Version des Multiversums nach wie vor mit großen Unsicherheiten verknüpft, dennoch haben wir allen Grund, der in Annahme 1 formulierten neuen Sicht auf die Wirklichkeit ernsthafte Beachtung zu schenken. Viele Wissenschaftler tun das heute. Was die Annahme 2 angeht, so haben wir ebenfalls erfahren, dass wir beispielsweise im inflationären und im Branen-Multiversum tatsächlich damit rechnen sollten, dass physikalische Eigenschaften unseres Kosmos wie die Werte der Naturkonstanten von einem Universum zum anderen variieren. Mit diesem Punkt werde ich mich später in diesem Kapitel noch genauer beschäftigen.
Doch wie steht es mit der Annahme 3, die das Leben und seine Abhängigkeit von den Naturkonstanten betrifft?
Leben, Galaxien und die Naturkonstanten
Bei vielen Naturkonstanten würde schon eine geringfügige Abweichung vom tatsächlichen Wert Leben, wie wir es kennen, unmöglich machen. Wäre die Gravitationskonstante ein wenig stärker, würden die Sterne zu schnell abbrennen, als dass sich auf Planeten, die sie umkreisen, Leben entwickeln könnte. Wäre sie schwächer, würden die Galaxien nicht zusammenhalten. Wäre die elektromagnetische
Kraft stärker, würden die Wasserstoffatome einander so stark abstoßen, dass sie nicht verschmelzen und den Sternen Energie liefern könnten. 13 Aber wie steht es mit der kosmologischen Konstante? Hängt das Leben auch von ihrem Wert ab? Diese Frage griff Steven Weinberg 1987 in seinem bereits erwähnten Artikel auf.
Die Entstehung des Lebens ist ein komplizierter Prozess, den wir bislang nur in allerersten Ansätzen verstehen. Deshalb erkannte Weinberg an, dass es ein hoffnungsloses Unterfangen ist, herausfinden zu wollen, wie dieser oder jener Wert der kosmologischen Konstante sich unmittelbar auf die unzähligen Schritte von der unbelebten Materie zum Leben auswirkt. Aber anstatt aufzugeben, kam er auf die kluge Idee, sich für die Entstehung des Lebens eines Stellvertreters zu bedienen: der Entstehung von Galaxien. Ohne Galaxien, so seine Überlegung, wäre die Entstehung von Sternen und Planeten gründlich gestört, und das hätte verheerende Auswirkungen auf die Wahrscheinlichkeit, dass sich Leben überhaupt entwickeln kann. Diese Herangehensweise war nicht nur äußerst vernünftig, sondern auch nützlich: Das Interesse lag jetzt in erster Linie auf der Frage, wie sich unterschiedlich große kosmologische Konstanten auf die Entstehung von Galaxien auswirken würden, und diese Frage konnte Weinberg beantworten.
Es bedarf dazu nur elementarer physikalischer Kenntnisse. Die genauen Einzelheiten der Galaxienbildung sind zwar ihrerseits Gegenstand aktueller Forschung; in groben Zügen handelt es sich dabei aber um eine Art astrophysikalischen Schneeballeffekt. Irgendwo bildet sich ein
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