Die verborgenen Bande des Herzens
das bereits sauber ist. Michael beobachtet mich, schweigt, ich denke, er weiß es.
»Gleich fertig«, sage ich in seine Richtung und deute mit dem Kopf auf das Glas, in dem sich nun langsam eine dicke, sahnige Schaumschicht bildet.
»Cara«, sagt er leise.
»Ja?« Ich hebe den Kopf.
»Komm her.«
»Was ist?«
Ich zwinge mich, ihn anzusehen.
»Was ist los?«
»Was?«
»Was ist los?«
»Nichts.«
»Alles okay?«
»Klar.«
»Sicher?«
Ich lächle ein schiefes Lächeln.
»Sicher.«
»Gut.«
»Cara!« Vom anderen Ende des Tresens ruft man nach mir, und ich wende mich erleichtert von Michael weg. »Cara, wie muss man es anstellen, damit man einen Schluck zu trinken bekommt? Du meine Güte! Ich werde mein Bier woanders trinken müssen, wenn du dich nur um ausgewählte Gäste kümmerst. Was findest du eigentlich an dem Kerl?«
»Ach, sei du mal lieber still, Davie Reilly, keine andere Bar in einem Umkreis von fünfzig Meilen würde dir ein Bier geben. Du hast doch überall Lokalverbot.«
Vom anderen Ende des Tresens ertönt schallendes Gelächter. Ein überraschtes Grinsen geht über Davies betrunkenes Gesicht.
Sean taucht aus dem kleinen Zimmer hinter dem Gastraum auf, wo er seinen Schreibkram erledigt.
»Macht dir der alte Suffkopf Ärger, Cara?«, fragt er in gespieltem Ernst. »Denn dann schmeiß ich den Kerl raus, das garantier ich dir. Hast du das gehört, Reilly?«
»Wer sagt da alter Suffkopf zu mir, McGettigan?« Davie legt den Ellbogen auf den Tresen, grinst dümmlich, sieht aus, als würde er gleich von seinem Barhocker rutschen. »Mann, du kannst froh sein, wenn überhaupt noch wer in diese alte Hütte kommt und hier ein Bier trinken will.«
»Ich dulde es nicht, wenn mein Personal angepöbelt wird«, sagt Sean und legt mir den Arm um die Schulter. »Noch ein Wort und du fliegst raus.«
»Und Sie haben genug für heute, Mr Reilly«, füge ich hinzu. »Ich werde Ihnen nichts mehr ausschenken.«
»Ach, mein Gott, sei doch nicht so streng mit mir, Cara. Einen letzten Schluck noch, ehe ich gehe.«
»Schau, dass du zu deiner Alice heimkommst, Davie.«
»Eins noch. Nur noch eins.« Er streckt einen Finger in die Höhe.
»Ich mach dir ’ne Tasse Tee, das ist mein letztes Angebot.«
»Tee? Was soll ich denn mit Tee?«
Die Tür geht auf. Seans Ehefrau Molly kommt herein. Seans Arm liegt noch immer auf meiner Schulter, und ich spüre, wie mein Boss sich verkrampft, doch er macht keine Anstalten, ihn runterzunehmen. Mollys Blick ruht eine Sekunde zu lange auf seinem Arm, sie lässt das Bild auf sich wirken, und eine gewisse Schärfe erscheint in ihren Augen. Da dreht Sean sich um und schickt sich an, wieder nach hinten zu gehen.
»Ich mache den Tee, Cara«, sagt er. Molly folgt ihm in das Hinterzimmer, geht wortlos an mir vorbei, und ein verlegenes Schweigen macht sich im Gastraum breit. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen ist, hört man vom oberen Ende des Tresens ein Gemurmel, in das sich Pfeifen und unterdrücktes Lachen mischen.
»Verdammt«, sagt einer von Davies Saufkumpanen. »Heute Nacht hat der nichts zu melden.«
»Ich denke, der hat die meisten Nächte nichts zu melden«, setzt Davie nach.
»Cara.«
Michaels Stimme ist ruhig. Ich wende mich ihm zu, und er deutet mit dem Kopf auf das Glas unter dem Zapfhahn, in das ich sein Guinness abfülle. Es läuft über, und ich drehe schnell den Hahn zu.
»Oh Gott. Tut mir leid, Michael.«
Michael schüttelt leise den Kopf, tut das Ganze mit einer Handbewegung ab. »Nichts passiert.«
Ich wische das Glas sauber.
»Kannst du morgen mal zum Strandhaus kommen, Cara? Ich muss dir einiges zeigen.«
Ich habe ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Ich war schon oft mit Michael in dem kleinen Haus allein, doch mit einem Mal ist diese Vorstellung anders. Ich spüre Aufregung und Vorfreude, in die sich eine Prise Gefahr mischt. Ich habe nie das Risiko gesucht, nie das prickelnde Gefühl auf dem Hochseil erleben wollen. Und doch balanciere ich nun auf ihm, und der Wind pfeift mir um die Ohren, droht, mich umzublasen, sodass ich hinunterstürze. Manchmal weiß ich nicht, wie ich hierhergekommen bin.
Wenn ich an Stevie denke, löst dies eine Art innere Lähmung bei mir aus. Ich habe durch eine Tragödie ein Kind verloren, und ich habe, wie ich erst jetzt erkenne, ein weiteres Kind durch meine Blindheit verloren. Es ist, als wäre mir das Kind, das mir wegstarb, wichtiger gewesen als jenes, das mir noch geblieben war, auch wenn ich es zu der
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