Die verborgenen Bande des Herzens
bringen wird. Es ist aufregend, spannend. Ich weiß, wer diese Frau einmal war; ich weiß noch nicht, wer sie werden wird.
Ich befinde mich in dem gelben Schlafzimmer, stehe nackt vor dem Spiegel. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, als würde ich neben dieser Frau stehen und sie beobachten. Mein Blick ist objektiv, als würde ich eine Laborprobe inspizieren. Ich registriere sachlich meine vollen Brüste und die milchweiße Rundung meiner Hüften, als würden sie einer anderen Frau gehören. Mein Bauch, durch die Schwangerschaft schlaff geworden, hat anschließend nie wieder seine frühere Form zurückerlangt, wie ein Gummiband, das überdehnt wurde. Ähnlich wie mein Geist eigentlich. Auch der ist verkümmert und nicht mehr so rege wie früher. Über meiner Scham wölbt sich ein kleiner Hügel, den ich einfach nie mehr losgeworden bin. Früher pflegte ich ihn frustriert, ja, angewidert zu beäugen, doch inzwischen schert er mich nicht mehr. Ich streiche mit der Hand über die Wölbung meines Bauchs, die Haut ist weich, schlaff. Es ist die Visitenkarte, die die Natur dagelassen hat; ich muss einfach damit leben.
Ich habe abgenommen. Ich habe keine Waage, aber ich würde sagen, drei Kilo sind es schon. Objektiv betrachtet wiege ich immer noch schätzungsweise vier Kilo zu viel. Vielleicht sogar mehr. Vielleicht sogar sechs. Ich drehe mich etwas und betrachte mich von der Seite. Auf meinen Oberschenkeln und meinen Pobacken hat sich Cellulite gebildet. Wenn ich die Muskeln anspanne, sind die Dellen noch stärker zu sehen. Als mein Körper sich veränderte, nahm ich es Alex übel. Als hätte er etwas damit zu tun. Mein Körper veränderte sich und seiner nicht, und das erschien mir sinnbildhaft für unser gesamtes Leben; für ihn ging im Grund alles so weiter wie vorher, für mich nicht. So ist Alex eben. Die Welt steht ihm zuliebe still. Nichts ficht ihn an.
Heute bläst es von der Küste her, die Luft riecht nach Meer, nach Salz und Tang und feuchtem Sand. Die Sonne wirft ein kaltes Licht, wie ein allzu angestrengtes Lächeln, und der Wind ist frisch und scharf, zerzaust die Gräser auf dem Hügel hinter Harrys Haus und verbindet die Schilf- und Strandhaferbüschel mit einer dünnen Linie aus feinem weißem Sand. Das Haus ist klein, gepflegt und weiß getüncht, die Fensterrahmen und Türen in einem satten Blutrot gestrichen. Jenseits des Hügels, dem Dorf zu, erstreckt sich das braune, mit Gestrüpp und Felsen gesprenkelte Moor, und dazwischen sieht man die geschwärzten Mauern von verfallenen Gebäuden und die kahlen Silhouetten windschiefer Bäume, die sich den Winterstürmen gebeugt haben. In der anderen Richtung erkennt man den Pfad, der die Klippen entlang und dann steil hinunterführt, zum Sandstrand und zu der blauen Hütte auf dem Hügel dahinter.
Nur das Heulen des Windes begleitet das klickende Geräusch, als ich den Eisenriegel am Tor anhebe. Die Haustür öffnet sich, noch ehe ich das Tor wieder hinter mir geschlossen habe, und Harry steht in der Tür. Als ich ihn sehe, weiß ich instinktiv, dass er die letzte Stunde damit zugebracht hat, sich auf mein Kommen vorzubereiten. Er trägt Hemd, Krawatte und darüber eine Strickjacke, und irgendwie muss ich bei seinem Anblick an einen kleinen Jungen denken, den man für den Sonntagsbesuch ordentlich geschrubbt hat. Es fällt mir auf, dass ich ihn vorher nie richtig ohne seine Tweedmütze gesehen habe, selbst in McGettigan’s Pub behält er sie auf. Sein schwarzes Haar ist grau gesprenkelt wie das Fell eines Dachses; über der Stirn, wo es zu Widerspenstigkeit neigt, hat er es mit Frisiercreme schön glatt gebügelt und zu einer ordentlichen Tolle geformt.
Beide sind wir verlegen. Als ich ihm mit linkischer Geste ein kleines Mitbringsel überreiche, eine Dose Gebäckmischung aus dem Kolonialwarenladen des Dorfes, bedankt er sich steif. Der Moment, der diese Einladung ausgelöst hat, geprägt von Behutsamkeit und Verständnis füreinander, ist derzeit nicht mehr greifbar, und nun stehen wir beide verunsichert in der Tür, fragen uns, wie wir in diese Situation geraten sind und ob wir dieses frühere Gefühl von Verbundenheit je wieder zurückerlangen werden.
»Kommen Sie doch rein«, sagt Harry und geht mir voran ins Wohnzimmer, wobei er sich schwer auf seinen Stock stützt.
Im Wohnzimmer sehe ich, dass der Tisch am Fenster, aus dem man auf den Garten hinter dem Haus blickt, für den Nachmittagstee gedeckt ist. Tassen und Untertassen aus geblümtem
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