Die verborgenen Bande des Herzens
meine Haustür, obwohl es schon nach zehn Uhr abends ist. Ich öffne, und er steht bereits auf der obersten Stufe, als hätten wir uns vorher verabredet. Vermutlich haben wir das auch. Ich frage ihn nicht nach dem Grund seines Kommens; und er nennt mir keinen. Ich schiebe mit dem Fuß den wollenen Zugluftstopper beiseite, damit er nicht stolpert, und gehe ihm voraus ins Wohnzimmer.
Am nächsten Abend steht bereits die Teekanne auf dem Tisch, als er anklopft, daneben zwei große Tassen. Ich gewöhne mir an, den Wasserkocher einzuschalten, sobald ich den Lichtstrahl seiner Scheinwerfer an meinem Fenster vorbeiziehen sehe. Ich gieße sprudelndes Wasser über den Tee und reiche Harry eine Tasse.
»Arbeiten Sie morgen?«, fragt er. Es ist das erste Mal, dass er mich anredet.
Ich nicke. »Nachmittags.«
Harry setzt seine Tasse ab und greift nach einem Haferkeks, bricht ihn resolut in zwei Hälften, wobei ein Schauer feiner Krümel in seinen Schoß schneit.
»Im Fernsehen läuft Snooker«, sage ich. »Sehen Sie sich das manchmal an?«
»Ich mag Snooker«, sagt er, und ich drücke auf die Taste der Fernbedienung.
Die Stille in dem Zimmer ist heimelig und entspannt, nicht peinlich, und wird nur von der gedämpften Stimme des Kommentators unterbrochen. Wir trinken unseren Tee, begleitet vom rhythmischen Klicken der Snookerbälle. Hin und wieder stöhnt Harry leise auf, wenn es einem Spieler nicht gelingt, den Ball zu versenken.
»Tja, dann will ich mich mal wieder auf den Weg machen«, sagt er, nachdem mehrere Sätze gespielt sind.
Ich beuge mich vor und nehme ihm seine Tasse ab, und Harry stützt sich auf die Armlehnen seines Sessels und wuchtet sich hoch. Als er die Haustür öffnet, dringt ein Schwall kalter Luft in die Diele, und dann ist Harry fort.
Es wird zur Gewohnheit. Ich freue mich auf sein Kommen. Ich denke nicht groß darüber nach, akzeptiere einfach, dass wir einander das geben, was wir brauchen. Es ist ungewohnt für mich, Umgang mit einem alten Mann zu haben; bisher gab es in meinem Leben immer nur Lily. Im Lauf der kommenden Wochen reden Harry und ich intensiver miteinander, aber er spricht nie über seine Friedhofsbesuche oder über seine Trauer. Und ich frage nicht. Und dann eines Abends, er ist bereits im Gehen, macht er noch einmal kehrt.
»Ich habe mir gedacht …«, sagt er zögernd.
»Ja?«
»Ich habe mir gedacht, ob Sie mich vielleicht einmal besuchen würden … eventuell Sonntagnachmittag? Es gibt da ein paar Dinge … Dinge, die ich Ihnen gerne zeigen würde.«
Wahrscheinlich steht mir die Überraschung ins Gesicht geschrieben.
»Patsy«, hebt er zur Erklärung an. »Meine Frau, Patsy …« Sein Blick ist unsicher, fragend, als hätte er Angst, ich könnte ihm eine Abfuhr erteilen.
»Ja, das wäre schön«, erwidere ich.
»Gerne«, sagt er, und in seiner Stimme höre ich die Erleichterung mitschwingen. Er schaut mich an und nickt, ein blasses Lächeln erscheint auf seinem Gesicht, und plötzlich gibt es zwischen uns einen dieser kostbaren Momente im Leben, wo man merkt, dass man sich mit dem anderen verbunden fühlt, dass ein unsichtbares Band des gegenseitigen Verständnisses entstanden ist, die Bereitschaft, sich in den anderen hineinzudenken, schlichtes Mitgefühl, das nun wie ein wärmendes Feuer aufflackert.
»Aber trotzdem schauen Sie morgen auch wieder herein bei mir, nicht wahr«, sage ich. Es ist keine Frage.
»Ich komme.«
»Nacht, Harry.«
»Nacht, Cara.«
Die Tür seines Wagens fällt zu. Ich stehe auf der Türschwelle und sehe ihm nach, verschränke die Arme vor der Brust, stecke die Hände in die Jackenärmel, um mich zu wärmen. Harry winkt noch einmal. Ich schließe die Tür und schiebe den Riegel vor.
Allmählich wird die Frau im Spiegel erkennbar, sie streift die alte, müde Haut ab, von der sie sich eingeengt fühlt. Ich beobachte fasziniert diese Frau, als wäre sie nicht ein Teil von mir. Als wäre sie ein Laborversuch, als wäre der Spiegel die gläserne Wand eines Reagenzglases in der Hand eines Wissenschaftlers. Ihr Gesicht wird schmäler, die Züge treten deutlicher hervor, die weißen teigigen Kissen ihrer Wangen schmelzen, Backenknochen kommen zum Vorschein. Der unsichere verhuschte Blick ihrer Augen wird kühner, direkter. Brodelnd und zischend verändert sich die Chemie ihres Körpers. Manchmal spüre ich, wie ich den Atem anhalte, während ich sie beobachte, und dann wieder warte ich einfach gelassen ab, welches Ergebnis die nächste Veränderung
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