Die verbotene Geschichte: Roman (German Edition)
Die Jungs schlugen dazu die Trommel, und die Erwachsenen, die sich prächtig über die rot und schwarz angemalten Kindergesichter amüsierten, ermunterten die kleinen Tänzer zu immer wilderen Verrenkungen. Großvater Albert führte bei solchen Gelegenheiten gern den »Vogelmann« vor, wie er die grüne Spielzeugfigur aus Samoa nannte. Sie war aus Jade, ungefähr zehn Zentimeter hoch und zeigte ein Wesen halb Vogel, halb Mensch. Katjas Eltern verdrehten dann die Augen, weil sie bereits wussten, was die Gäste nun erwartete: Damals, in ihren Kindertagen, als Opa Albert noch nicht im Rollstuhl saß, hielt er irgendwann im Verlauf der Feier die Figur mit beiden Händen über seinen Kopf und begann urplötzlich, mit ruckartigen Bewegungen durch den Raum zu zucken, während er gleichzeitig Laute wie von einem kranken Huhn ausstieß. Danach schüttete er sich aus vor Lachen und fiel irgendwann erschöpft in seinen Sessel zurück. Gäste, die zum ersten Mal diesem Schauspiel beiwohnten, waren verständlicherweise irritiert, und Katjas Eltern mussten sich den Rest der Feier meist damit beschäftigen, das merkwürdige Verhalten des Familien-Patriarchen zu erklären. Als Katja etwas älter war und erkannte, dass kein Mensch außer ihrem Opa diese seltsamen Geburtstagsbräuche zelebrierte, fragte sie ihre Mutter einmal, was es denn mit diesem Tanz, den sie gerade hatten absolvieren müssen, und dem Vogelmann auf sich habe.
»Ach, das ist nur ein dummer Spaß, den sich dein Großvater einmal im Jahr erlaubt«, sagte ihre Mutter in leicht abschätzigem Ton. »Das darfst du nicht weiter ernst nehmen.« Als Katja sich mit dieser Erklärung nicht zufriedengeben wollte, kniete sich ihre Mutter seufzend vor sie hin.
»Wie erkläre ich es dir nur am besten? Also, auch wenn es schwerfällt, sich das vorzustellen, aber Großvater Albert war auch einmal ein Kind und hatte Großeltern. Die beiden sind allerdings schon lange tot. Seine Großmama stammte aus Samoa.«
»Wo ist denn Samoa?«
»Das ist eine wunderschöne Insel in der Südsee.«
»Warst du schon mal da?«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf und strich Katja übers Haar. »Nein, aber ich wünschte, ich wäre es. Dein Vater war allerdings schon öfters dort. Er besitzt dort und in Papua-Neuguinea unter anderem Plantagen.«
»Papa Neu-was?«
Ihre Mutter lachte herzlich und wiederholte den korrekten Namen.
»Und ist das auch im Südsee? Ist der weit weg von hier?«
Frau von Beringsen nickte lächelnd zu ihrer Tochter herab.
»Ja, mein Schatz. Am anderen Ende der Welt, dort, wo die wilden Männer hausen«, sagte sie nur geheimnisvoll und rollte übertrieben mit den Augen. Dann wischte sie Katja mit einem Tuch die Farbe aus dem Gesicht und bedeutete ihr mit einem Klaps, zu den anderen Kindern in den Garten zurückzulaufen.
Die Erinnerung ließ Katja den Kopf schütteln. Im Begriff, die Karte wieder in den Umschlag zu stecken, hielt sie plötzlich inne und schaute nochmals auf das Datum. Am 17. Mai. Katja überlegte. Die Zeremonie für Phebe überschnitt sich mit Großvater Alberts Fest. War das vielleicht ein Wink des Schicksals? Doch schon im nächsten Augenblick fand Katja die Idee absurd. Warum sollte sie für eine vor langer Zeit verstorbene Frau, die weder sie noch ihre Eltern gekannt hatten, ans andere Ende der Welt reisen?
Trotzdem ließ sie der Gedanke nicht los. Möglicherweise wäre dies genau die Gelegenheit, auf die sie insgeheim gehofft hatte, um aus ihrem Alltag auszubrechen. In Papua-Neuguinea könnte sie, fern der Beobachtung durch Bekannte oder die Eltern, ausprobieren, wie es sich anfühlte, ohne Michael einen neuen Schritt im Leben zu wagen. Genau davor hatte sie in den letzten drei Jahren Angst gehabt: fremden Menschen und unbekannten Situationen zu begegnen, ohne Michael an ihrer Seite zu haben. Nicht, weil sie ängstlich oder schüchtern gewesen wäre. Nein, die altbekannten Abläufe in vertrauter Umgebung hinter sich zu lassen würde bedeuten, Michael zurückzulassen, und dieser Gedanke fühlte sich für sie noch immer wie Verrat an.
Was also, wenn sie sich tatsächlich dazu entschloss, nach Papua-Neuguinea zu fliegen? Möglich wäre es im Prinzip. Ihr Jahresurlaub war längst überfällig, und ihr alter Vertrag mit der Klinik lief eh bald aus. Zwischen zwei Verträgen könnte sie sich durchaus eine Auszeit gönnen. Sie tat seit dem Unfall ja praktisch nichts anderes, als lange Schichten zu schieben. Manchmal ging sie abends mit einer Freundin ins
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