Die verbotene Geschichte: Roman (German Edition)
dich. Papa fragt schon eine ganze Weile nach dir. Willst du nicht mal wieder vorbeikommen, auf einen Kaffee?«
»Ach, Mutter. Vater und nach mir fragen. Das glaubst du doch selbst nicht. Fast jedes Mal, wenn ich ihn sehe, endet es im Streit.«
»Weil ihr beide denselben Dickschädel habt, deshalb. Dabei tust du ihm unrecht, glaub mir. Er fühlt durchaus mit dir, kann es aber nicht so ausdrücken. Also, komm schon, gib dir einen Ruck und besuche deinen Vater! Er vermisst dich. Wirklich.«
Der Anflug eines Lächelns zeichnete sich auf Katjas Lippen ab.
»Ich überleg es mir.«
Margarete von Beringsen strich ihrer Tochter kurz über den Rücken, hängte sich ihre Tasche um und wandte sich zur Tür. Die Hand schon auf der Klinke, drehte sie sich noch einmal um. »Beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen.« Sie fischte einen Umschlag aus ihrer Handtasche und gab ihn der Tochter. »Hier. Die Einladung zu Großvaters Geburtstag. Ich weiß, Alberts Jahrestag ist eine bittere Erinnerung für dich, aber bitte komm dieses Mal! Wir sind deine Familie, Katja.«
Als ihre Mutter gegangen war, drehte Katja die Musik auf und warf die Geburtstagseinladung auf die Küchentheke. Und wenn ihre Mutter vielleicht recht hatte und sie schon viel zu lange in der Trauerphase steckte? Wie lange dauerte »normale« Trauer? In der medizinischen Literatur war ungefähr von einem Jahr die Rede, wenn sie sich richtig erinnerte. Es stimmte, sie hatte sich gerade in den letzten Monaten sehr von Freunden und Familie zurückgezogen. Im ersten Jahr nach Michaels Tod hatte sie noch jede Menge Anrufe und Einladungen zu irgendwelchen Aktivitäten erhalten. Nachdem sie dann mehrere Male abgesagt hatte, ließen diese Anrufe allmählich nach. Das war nur verständlich, und es hatte Katja nicht weiter gestört, schließlich wollte sie ja nichts anderes, als mit sich und den Erinnerungen an Michael allein zu sein.
Konnte es sein, dass sie es sich mit der Zeit fast schon behaglich in diesem Zustand eingerichtet hatte? Verwechselte sie womöglich die Gewöhnung an ihre Einsamkeit mit der sogenannten Regression, wie Ärzte die Phase der Trauer nannten und in der sie sich ihrer Meinung nach gerade befand? Die vorletzte Stufe der Trauer, die von Rückzug aus dem Leben und gewählter Isolation gekennzeichnet ist? Warum ließ sie nicht los und wagte den Sprung zurück ins Leben? Sehnte sie sich im Grunde nicht selbst nach der letzten Trauerphase, die eine Anpassung an das Leben ohne den geliebten Menschen bedeutete? Wenn sie sich nur aktiver darum bemühte, zurück ins normale Leben zu gelangen, würde es dann nicht irgendwann einfach passieren, dass es sich richtig anfühlte?
Katja ging nachdenklich in den Flur zur Kommode und schaute die Post durch. Die Rechnungen legte sie ungeöffnet zur Seite und griff nach dem Brief mit den exotischen Briefmarken. Birds of Paradise stand unter den Abbildungen der prächtig gefiederten Vögel. Sie öffnete den Umschlag mit dem Daumen und zog eine schlichte Karte hervor. Wie von ihrer Mutter angekündigt, handelte es sich um die Einladung zu einem Beerdigungszeremoniell. Fast siebzig Jahre nach ihrem Tod hatte man die sterblichen Überreste einer gewissen Phebe Parkinson gefunden und wollte sie nun im Familiengrab auf der Farm Kuradui beisetzen:
Wir betten die allseits geliebte und verehrte Phebe Parkinson am 17. Mai 2010 neben ihren Mann Richard Parkinson. Es war ihr ausdrücklicher Wunsch, und nun endlich geht er in Erfüllung. Wir würden uns freuen, wenn Sie dem feierlichen Zeremoniell auf Kuradui beiwohnen könnten.
Unterschrieben hatte ein gewisser Reuter, Leiter der katholischen Diözese Vunapope. Dann folgten noch einige technische Hinweise zu Anfahrt und Unterbringung, Telefonnummern sowie einige Netzadressen mit näheren Informationen über das Land im Allgemeinen und die katholische Gemeinde im Besonderen. Aus Deutschland, so hieß es außerdem auf der Karte, buche man am besten einen Flug über Australien zur Hauptstadt Port Moresby und von dort einen Anschlussflug nach Rabaul, das zwanzig Autominuten vom Zielort Kokopo entfernt sei.
Rabaul, Kuradui, Vunapope, Kokopo. Die fremd klingenden Namen waren Katja das ein oder andere Mal in der Villa ihrer Eltern oder auf Großvaters Gut zu Ohren gekommen, aber was sich hinter ihnen verbarg, darüber wusste sie so gut wie nichts. Sie erinnerte sich daran, als Mädchen einmal mit ihren Cousinen in Baströckchen auf Großvaters Geburtstagsfeier getanzt zu haben.
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