Die verbotene Pforte
Wasserlauf, auf den sie bald darauf stießen, entpuppte sich als schäumender Strom, der nach und nach ruhiger wurde und schließlich in eine Perlenkette von spiegelglatten Staubecken mündete. Kaulquappen flitzten erschrocken davon, als Tobbs’ Schatten auf die Oberfläche eines solchen Beckens fiel. Von einer Nixe war jedoch weit und breit nichts zu sehen, zumindest, soweit Tobbs das beurteilen konnte.
Anguana kniete sich ins Schilfgras am Ufer und tauchte den Kopf ins Wasser. Staubwolken lösten sich aus ihrem langen Haar und trübten das klare Wasser. Während sich das staubige Grau auswusch, kam allmählich Anguanas seltsames Haar wieder zum Vorschein. Seit dem Unfall mit dem giftigen Riesenkraken hatte es immer noch einen neongrünen Farbstich. Luftbläschen stiegen auf, als Anguana unter Wasser nach Nixen und Nymphen rief.
Tobbs lauschte in den Wald. Bäume und Blätter schienen den Atem angehalten zu haben, sogar die Insekten schwirrten nicht mehr, sondern verharrten mit zitternden Flügeln auf Ästen und Grashalmen.
Ein Tropfenschauer traf Tobbs, als Anguana wieder auftauchte und ihr nasses Haar zurückwarf.
»Niemand da. Aber im Wasser habe ich die Vibration von Hufschlägen gespürt. Irgendwo hier am Bachufer sind Pferde unterwegs.«
Tobbs spähte in das Dickicht. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. Reiter!, dachte er. Was, wenn sie längst wissen, dass wir hier sind?
»Hinter den Baum!«, flüsterte er. Das brauchte er Anguana nicht zweimal zu sagen, sie sprang sofort auf und versteckte sich mit ihm unter den hängenden Zweigen einer ausladenden Trauerweide. Eng zusammengedrängt lauschten sie.
Tobbs konnte Anguanas Anspannung fühlen. Vorsichtshalber umklammerte er den Griff der Axt, die in seinem Gürtel steckte, und legte sich blitzschnell einige Strategien zurecht:
Plan A: über den Bach springen und an der schattigen Stelle zwischen zwei Zedern ins Unterholz verschwinden.
Plan B: auf den nächsten Baum klettern.
Plan C: mit der Axt einen Überraschungsangriff starten.
Zugegeben, Plan C war reiner Selbstmord, falls das, was sich ihnen gerade näherte, wirklich rote Krieger waren.
Doch das Stampfen, das Tobbs bald darauf vernahm und das immer lauter wurde, wirkte nicht im Entferntesten wie der Galopp einer Reitertruppe. Vielmehr erinnerte es an das träge Dahinschlendern gelangweilter Huftiere, die von Grasbüschel zu Grasbüschel trotteten, unschlüssig, ob sie stehen bleiben und fressen oder doch lieber weitergehen sollten. Und als ein Wiehern ganz in der Nähe erklang, sahen sie beide gleichzeitig, wie sich etwas Rotes auf der anderen Seite des Baches bewegte.
Durch den Vorhang aus Weidenzweigen erkannte Tobbs dunkelrote Pferde, die durch den Wald schlenderten. Die Reittiere der Krieger aus Doman! Zum Glück ohne die Krieger. Tobbs schielte zu den Hufen. Und richtig: Statt Fellbüscheln hatten diese Tiere kleine rote Schlangen an den Beinen, die sich wanden und zischten. An diesen schauderhaften Anblick erinnerte Tobbs sich leider besser, als ihm lieb war.
»Tobbs!«
Er war so versunken in den Anblick der Kampfpferde, dass er Anguanas leise Stimme zunächst nicht wahrnahm. Erst als sie ihn energisch am Ärmel zupfte, wandte er sich um.
Wenige Schritte von ihnen entfernt stand ein mondgesichtiger Mann am Bachlauf. Misstrauisch spähte er zu ihrem Versteck unter den Zweigen der Weide. Sein schwarzes Haar hing ihm wirr in die Stirn, er hatte O-Beine und trug eine Schaffellweste, die schon bessere Tage gesehen hatte. Der Rest seiner Kleidung sah aus, als hätte sich ein Lumpensack von selbst in Bewegung gesetzt. Offenbar war er ein Hirte, denn er stützte sich auf einen langen Holzstab. Dieser unterschied sich von einem gewöhnlichen Hirtenstab allerdings dadurch, dass sich eine lebendige weiße Schlange an der Spitze ringelte. Im Augenblick züngelte das Tier verdächtig interessiert in Richtung Trauerweide.
»Stillhalten«, flüsterte Anguana.
»Danke für den Tipp«, knurrte Tobbs.
Der Mann hatte schräge, schmale Augen, die sich nun zu noch schmaleren Schlitzen verengten. Mit schleichenden Schritten kam er näher. Der Wind trug den Geruch von Branntwein und Pflaumen vor ihm her.
»Donata desu ka?«, rief er in der kehligen, fremden Sprache der Domaner, die in Tobbs eine ganze Reihe schrecklicher Erinnerungen wach werden ließ.
»Donata desu ka?«, wiederholte der Mann und klopfte mit dem Stock auffordernd auf den Boden. Tobbs hätte schwören können, dass die Schlange diesen
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