Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Scheunenviertel oder beim Flugblattverteilen in der Schönhauser Allee festgenommen worden waren. Auch den jüdischen Inhaber eines Zigarrenladens in der Kastanienallee habe es damals erwischt, erzählte ihr der Alte.
Am Tag darauf besuchte Marie den jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee. Sie fand einen verwunschenen Ort mit verwahrlosten Gräbern, von Sträuchern überwucherte Geschichte. Nur wenige Menschen kamen hier vorbei. Marie ließ sich auf einer umgefallenen Steinsäule nieder und sah dem Spiel der Sonnenstrahlen zu, die trotz der dichten Baumkronen bis auf den Boden drangen. Sie dachte an ihre neue Heimat, Prenzlauer Berg, und einen Satz, den sie in einem Buch bei Jens gelesen hatte: Die Gegenwart bleibt, nur die Zeit vergeht.
Mit Block und Bleistift zog sich Marie zum Zeichnen manchmal auf einen anderen alten Friedhof an der Greifswalder Straße zurück. Sie mochte die breite Baumallee gleich hinter dem Eingang. Hier hatte man die Bäume so wachsen lassen, wie die Natur es wollte, und sie nicht so ordentlich getrimmt wie die meisten Straßenbäume.
Marie ging langsam durch die Reihen, betrachtete steinerne Engel, Blumen und Ranken, las die Namen auf den Grabsteinen, bis sie einen geeigneten Blickwinkel fand. Wenn sie lange genug dort gesessen, beobachtet und gezeichnet hatte, bekam sie ein Gefühl, das sie im Alltag sonst nicht hatte. Das Gefühl, an diesem Ort einfach nur da sein zu können, die Zeit zu vergessen und sich treiben zu lassen. Ein Gefühl, das sie mochte und das sie immer wieder dorthin zog.
IN JENS’ WOHNUNG gab es keinen Balkon, aber er hatte sich einen Schlüssel für den leer stehenden Dachboden besorgt. Marie entdeckte bald, dass sie von dort über eine Luke ins Freie hinausklettern konnte. Das Haus hatte ein Flachdach mit Unmengen von Schornsteinen, an denen die Ziegelsteine schon mehr oder weniger abgebröckelt waren. Auch jetzt im Frühjahr roch es hier noch immer nach Braunkohle, das gehörte zu ihrem Land wie der Geruch nach Desinfektionsmittel in den Korridoren der öffentlichen Gebäude und der Gestank des bläulichweißen Nebels, den die Zweitaktmotoren auf allen Straßen hinterließen.
Seitdem sich die ersten warmen Sonnenstrahlen gezeigt hatten, gefiel es ihr, dort oben, hoch über der Stadt, zu sitzen und für ihr Studium zu zeichnen: die verfallenen Schornsteine, den Blick über die Hausdächer rundherum, die Spitze des Fernsehturms.
Kein Mensch kam sonst hierher. Die Dachlandschaft gehörte ihr. Ab und zu nahm sie eine Freundin mit hinauf. Vom Dach ihres Hauses aus streifte sie auch über die Dächer der Nachbarhäuser ihrer Straße, sie fühlte sich frei hier oben. An einer Brandmauer musste sie ein paar rostige Eisenbügel hochklettern, um das nächste Hausdach zu erreichen. An einer anderen Stelle lag nur ein schmales Brett, das zur nächsten Dachschräge führte. Bis hierhin war ihre Freundin beim ersten Besuch mitgekommen, bevor sie dann doch lieber umkehrte. Marie ging auf ihren Erkundungstouren noch ein ganzes Stück weiter, denn man gelangte über den ganzen Häuserblock hinweg bis zur Prenzlauer Allee, wo sie problemlos wieder in ein Haus hineinklettern konnte. Es war der kürzeste Weg zu Freunden, die dort eine Wohnung hatten.
MARIE HATTE ZEIT. Sie studierte Szenografie an der Kunsthochschule Weißensee, und sie konnte wie die anderen Studenten meist zu Hause arbeiten. Nur einmal in der Woche kam Marie mit einer Handvoll Studenten aus dem Kurs »Malen und Plastik« zusammen. Dann zeigten sie sich gegenseitig, was aus dem Thema, das der Dozent vorgegeben hatte, im Laufe der Tage entstanden war. Etwa zu Shakespeares Sommernachtstraum . Sie stellten ihre Ideen für das Bühnenbild, das Beleuchtungskonzept und die Kostümentwürfe vor, die sie schriftlich ausgearbeitet, gemalt oder als dreidimensionales Bühnenmodell im Pappkarton entworfen hatten.
Marie stand erst am Anfang ihres Studiums. Es würde noch drei Jahre dauern, bis sie einen Abschluss hätte und bei Film- oder Theaterproduktionen mitarbeiten könnte.
Irgendwann erzählte sie Jens, wie schwer es für sie gewesen war, diesen Studienplatz zu ergattern.
Maries Vater Heinz arbeitete im Babelsberger Spielfilmstudio der DEFA als Produktionsleiter. Schon als junges Mädchen war sie oft bei Dreharbeiten dabei gewesen, hatte den Ausstattern und Kostümbildnerinnen über die Schulter gesehen. So etwas wollte sie später auch machen. Als der Fernsehfilm Die unheilige Sophia gedreht wurde, malte sie
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