Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Szenenbilder.
Marie hatte ein festes Ziel, und sie wollte daher alles richtig machen. Wenn Schüler sich an die Spielregeln hielten, konnten sie am Ende ihrer Schulzeit einen mehr oder weniger vollen Karton mit Auszeichnungen, Urkunden und Medaillen vorweisen, eine notwendige Grundlage nicht nur für die Bewerbung um einen Studienplatz, sondern überhaupt, um in dieser Gesellschaft weiterzukommen.
So sammelte auch sie Urkunden und Medaillen aller Art wie das Abzeichen für gutes Wissen in Gold. Das Abitur bestand sie mit »gut«. In das letzte Zeugnis schrieb ihr der Klassenlehrer: An gesellschaftlichen Fragen hat Marie Interesse und sie urteilt vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus. Klang gut, reichte aber bei weitem noch nicht. So oder ähnlich stand es in vielen Abschlusszeugnissen.
Schon drei Jahre vor dem Ende der Schulzeit hatte Marie an der Kunsthochschule in Weißensee eine Voreignungsprüfung gemacht, um ihre Chance zu verbessern, dort angenommen zu werden. Dazu absolvierte sie einen zweijährigen Jugend-Kunstkurs sowie ein Abendstudium in Malerei. Alles vor dem Abitur. Direkt nach dem Ende der Schulzeit folgte ein eineinhalbjähriges Volontariat im DEFA -Studio für Spielfilme in Babelsberg.
Als diese Zeit hinter ihr lag, schrieb die Betreuerin bei der DEFA über Marie: Begegnungen mit Menschen sind für sie von großer Wichtigkeit. Ihre Erlebnisfähigkeit ist spontan und stark. Ihre Begabung beim Zeichnen falle auf. Sie zähle zu den Jugendlichen, die sich zu einem größeren Talent entwickeln könnten . Das klang schon besser, und am Ende hatte sich ihr Einsatz für den Studienplatz gelohnt. Sie gehörte zu den vier Studenten, die unter fünfzig Bewerbern ausgesucht wurden.
Jetzt saß sie zufrieden mit sich und der Welt auf einem Dach in Prenzlauer Berg, malte Schornsteine und manchmal schneiderte sie abends selbst entworfene Kleidung. Sie wollte nicht die Sachen tragen, die alle trugen.
Nachts schrieb sie lange Briefe an ihre Freunde, auch an die außerhalb des Landes, die sie bei ihren Fahrten durch Polen oder Bulgarien kennengelernt hatte. An Jurek in Warschau schrieb sie:
In diesem Jahr fährt mein Vater nach Polen, und ich gebe ihm schnell noch ein paar Zeilen für Dich mit. Ich weiß gar nicht, ob Brief und Päckchen bei Dir angekommen sind. Ich hoffe es sehr … In diesem Jahr komme ich nicht nach Polen. Ich baue gerade eine kleine Wanderbühne aus Holz für die Commedia dell’Arte. Ganz schön, so etwas zu konstruieren. Sie ist noch bestückt mit kleinen Stoffvorhängen, Treppchen und Möbeln aus Pappe und Papier. Und wenn ich sie mir so ansehe, geht das Spiel gleich los. Es ist, als wäre man auch so klein und könnte 300 Jahre zurückversetzt dem Arlecchino beim Spiel zusehen. Oder dem Pantalone mit seiner roten Jacke, der gar nicht merkt, wie er von allen belächelt wird. Um mich hängen einige Skizzen an der Wand mit meiner Bühne, die ich auf einen italienischen Markt gestellt habe. Italien. Italien, da möchte ich doch zu gerne jetzt hin. Und wenn Du vor mir da sein solltest, musst Du mir alles aufschreiben.
Kapitel 3 Die Verwarnung
Als Marie an einem dieser frühen Sonnentage im Jahr vom Dach durch die Luke wieder zurück ins Haus geklettert war, stand Jens in der Wohnung. Er war gut gelaunt. In seiner Hand hielt er einen Brief.
Stell dir vor, sie bieten mir gleich acht neue Vortragstermine an! Bald brauche ich neue Themen, über die ich sprechen kann. Der Sommer naht, wäre es nicht toll, wenn wir zusammen in die Mongolei fahren würden?
Marie zögerte nicht mit ihrer Antwort.
Du hast mich doch schon am ersten Abend neugierig gemacht auf deine Reisen. Ich kann mir nichts Schöneres und Spannenderes vorstellen, als mit dir zusammen weit weg von hier unterwegs zu sein. Aber wie kommen wir da hin? Wir brauchen doch eine Einladung, oder?
Jens streifte mit der Hand durch seinen Bart, grinste etwas und sah Marie vielsagend an.
Marie lachte: Na klar, du hast schon einen Plan. Das hätte ich mir denken können.
Das Schreiben war von der Ost-Berliner Urania gekommen, einer Bildungseinrichtung, die es sich seit hundert Jahren zur Aufgabe machte, Wissenschaft populär zu vermitteln. Normalerweise redeten dort ältere Experten und nicht Studenten wie Jens, der gerade einmal im zweiten Jahr an der Humboldt-Universität studierte. Aber der dreiundzwanzigjährige angehende Biologe war bei der stellvertretenden Leiterin der Urania gleich auf Zustimmung gestoßen, als er nach seiner ersten
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