Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
nächsten Mal gab es mehr Anmeldungen als Plätze.
Jens begann sich über seine Zukunft als Verhaltensbiologe Gedanken zu machen. Er wünschte sich, ganz offiziell in die verschiedenen Klimazonen der Welt zu reisen, Erkundungen über Tiere und Pflanzen einzuholen und dann zu Hause darüber zu berichten. Er würde hier und da Artikel mit seinen Fotos in Fachzeitschriften publizieren und Bücher über seine Expeditionen und Forschungsergebnisse verfassen.
Wenn er sich allerdings mit älteren Mitstudenten unterhielt, klang es eher, als würden Verhaltensbiologen eines Tages in einem volkseigenen Hühnerzuchtbetrieb irgendwo in Mecklenburg oder in Vogelsdorf am Berliner Stadtrand enden, um dort die Tierproduktion zu optimieren. Eine Kommilitonin berichtete ihm, sie habe bei der Intensivhühnerhaltung genau die Käfiggröße berechnen müssen, bei der am wenigsten Legehennen krepierten.
Oder würde er in einem Forschungslabor enden, in dem er jeden Tag die gleichen Handgriffe würde machen müssen? Endlose Tabellen anfertigen mit den Ergebnissen aus Versuchsreihen, tote Mäuse in Scheiben schneiden und analysieren? Ein langes Arbeitsleben ohne jegliche Freiräume?
Jens wollte Freilandbiologe und Verhaltensforscher werden. Aber würde der Staat ihm die Wahl lassen? Hatten andere, die ihm von ihren ersten Berufserfahrungen erzählten, nicht zu hören bekommen: Wir haben dich studieren lassen, jetzt hast du die Pflicht, das zu tun, wofür wir dich brauchen!
ICH HAB’ ÜBRIGENS von meiner Seminargruppenleiterin einen Anpfiff bekommen, weil ich ein paar Russischstunden versäumt hab’ , erwähnte Jens am Küchentisch eher beiläufig gegenüber Marie.
Aber das machen doch alle!, beschwichtigte sie. Ist doch nicht so wichtig, oder? Ich hab’ auch schon Russisch verpasst.
Jens nickte. Er fand weder die Beschwerde über ihn noch die Russischstunden besonders wichtig, weil er auf seinen Reisen durch die Sowjetunion ganz gut sprechen gelernt hatte. Seine Grammatik stimme zwar oft nicht, räumte er ein, aber es funktioniere von Mal zu Mal besser mit der Verständigung, wenn er bei seinen Reisen unterwegs Leute kennenlerne. Und Jens sprach viele Leute an. Etwas Interessantes oder Nützliches ergab sich am Ende immer daraus. Er hatte viele Adressen gesammelt. Wenn er seine Gesprächspartner nicht gleich verstand, fragte er nach und schrieb die neuen Wörter mit Übersetzung in sein Notizbuch.
Abends, allein im Zelt, habe ich mir dann vor dem Einschlafen die letzten fünfzig Wörter noch mal angesehen.
Marie machte ein mitleidiges Gesicht.
Jens lachte: So was macht man halt, wenn man allein im Zelt ist!
Viel lieber als zum Russischkurs ging er in das Seminar eines Biologie-Professors, Günter Tembrock, der kurz vor der Emeritierung seine letzten Veranstaltungen am Institut abhielt. Sie waren dort nur wenige Studenten, eigentlich war das Seminar Teil des Diplomstudiengangs für ältere Semester im Hauptstudium. Jens dagegen befand sich erst im zweiten Studienjahr. Er befürchtete jedoch, dass es später, wenn er selbst im Hauptstudium wäre, die Vorlesungen des Wissenschaftlers nicht mehr geben würde . Der Verhaltensforscher behandelte darin etwa die akustische Kommunikation von Tieren und die Parallelen zwischen Tierlauten und menschlichen Schreien, die Angst ausdrücken. Für Jens, der sich seit seiner Kindheit für die unterschiedlichen Vogelstimmen begeistert hatte, war das sehr viel spannender als russische Grammatik. Dummerweise fand dieses Seminar zeitgleich mit den Russischstunden statt.
Die Verwarnung der Seminargruppenleiterin wollte er einfach ignorieren.
Jens nahm sich das letzte Stück Kuchen. Er kam ins Reden, über sein Studium und die Pläne, die er als Jugendlicher geschmiedet hatte. Er erzählte Marie, wie schwer es auch für ihn gewesen war, den Studienplatz in Berlin zu bekommen. Als er die Zusage endlich erhielt, glaubte er sich am Ziel seiner Träume.
Jens war in Leipzig aufgewachsen. Sein Vater war Kfz-Meister im »Kombinat Kraftverkehr«. Doch für Motoren und Getriebe interessierte Jens sich kaum. Schon als Schüler hatte er sich dagegen für die Natur begeistert. In den Frühjahrsferien fuhr er in den Spreewald zum Spezialistenlager Ornithologie und Naturschutz . Vögel beobachten, ihren Lebensraum erkunden, ihr Verhalten studieren, das machte ihm Spaß.
Seit Umweltschutz ein immer größeres Thema geworden war, hatten sich überall im Land neben den offiziellen Fachgruppen des Kulturbundes
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